Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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dass sie etwas locker machten.

      Taten sie aber längst nicht immer. Es kam ganz darauf an, in welcher Verfassung man den Vater antraf. Und die Verfassung hing nicht nur von dessen Gesundheitszustand ab. Der Alte war unberechenbar. Nach wie vor. Und gewalttätig. Keiner wusste das besser als Olli. Mit zunehmendem Alter war das nicht anders geworden. Aber es war immerhin einfacher, seinen physischen Attacken auszuweichen. Dafür hatte der Vater verbal noch zugelegt.

      »Wenn du wenigstens anständig saufen würdest«, hatte er letzthin gesagt. »Aber diese hirnschwache Kifferei. Richtige Männer saufen! Alles andere ist Weiberzeug. Oder schwul.«

      Klar: Wenn er nur gesoffen hätte, wenn er nur schwul gewesen wäre, oder auch beides zusammen, dann hätten sie ihn sogar beim Militär genommen. Aber einen, der Illegales konsumierte und auch noch damit handelte … Tat er aber schon lange nicht mehr. Nur noch Eigenbedarf. Alles andere war zu aufreibend. Er vertrug das nicht mehr. Es gab Bluthochdruck, Magengeschwüre, Gallensteine. Stress, einfach nur Stress. Hatte er alles im Internet gelesen. Er wusste zu viel. Ihm konnte keiner mehr etwas vormachen.

      »Hosenscheißer!«, hatte sein Alter ihn betitelt. »Hypochonder!«

      Woher er den Ausdruck hatte? Er wusste ja nicht einmal, wie man einen Computer startete. Keine Ahnung hatte er. Und als Vorbild – hach! Nur nicht so werden wie der Alte. Vielleicht lag genau darin der Schlüssel, dass er, der Sohn, aus der Rolle gefallen war.

      Olli versuchte sich aufzurichten. Er wollte weder rauchen noch saufen. Genug für heute! Er war ganz einfach wütend. Wütend über den Alten, der ihn in die Welt gesetzt hatte. Wütend über die Mutter, die sich von diesem Mistkerl hatte unter die Röcke greifen lassen. Und wütend über sich selber, weil er sich wieder in geistige Turbulenzen hatte verwickeln lassen. Reine Energieverschwendung!

      Und jetzt war sie dahin, die Energie. So ging es immer. Eigentlich wusste er es ja. Das machte die Wut nicht kleiner. Nicht einmal das Aufsitzen gelang noch. Das Letzte, was ihm durch den Kopf ging, bevor nach den Muskeln auch die Schaltzentrale ausfiel, war das Telefongespräch mit dem Alten. Er hatte ihn am frühen Abend angerufen, um sein Kommen für den folgenden Tag anzukünden. Und um die allgemeine Lage zu sondieren. Die allgemeine und die spezielle. Ob es überhaupt Sinn machte zu fahren. Ob es sich auch auszahlen würde.

      Der Alte war nicht gerade gesprächig gewesen. Aber das war er eigentlich nie. Ausgenommen die Phasen, in denen er außer sich geriet und eine seiner Tiraden gegen alle und alles loslassen musste. Aber das umging man besser. Da war stets Vorsicht und Taktik angebracht.

      »Also, dann bis morgen«, hatte er gesagt.

      »Morgen«, hatte der Alte wiederholt.

      Sonst hatte er nichts gesagt. Nur dieses eine Wort. Morgen. Weder fragend, noch zustimmend. Und das Seltsamste war, dass er nach einer Weile, in der beide nur in die Leitung schwiegen, noch hinzugefügt hatte: «Das musst du mit deiner Mutter ausmachen.«

      Als ob die Mutter jemals etwas zu sagen gehabt hätte. Natürlich war sie es, die ihm ab und zu etwas zuschob. Heimlich, hinter Mattis Rücken. Er durfte nichts davon erfahren. Auf gar keinen Fall. Wie und wo die Mutter etwas abzweigen konnte, ohne dass es der misstrauische Alte mitbekam, blieb ihr Geheimnis.

      Was sollte er denn mit der Mutter ausmachen? Matti – er brachte das Wort Vater schon lange nicht mehr über die Lippen –, wusste Matti mehr, als er preisgeben wollte? Zuzutrauen wäre es ihm. Andrerseits glaubte Olli nicht daran. Über Geld musste man mit dem Alten nicht diskutieren. Jedenfalls nicht, wenn es nicht etwas Zusätzliches einzubringen versprach.

      Ollis Einwand wurde nicht mehr weitergeleitet. Der Alte hatte bereits aufgelegt.

       Henrik

      Henrik Nyström kam nicht weit. Nachdem er vor Harmoinen die Abzweigung nach Torittu genommen hatte, musste er vor der roten Ampel einer Baustelle anhalten. Zwar hatte er schon bei der Herfahrt festgestellt, dass ein längerer Straßenabschnitt erneuert werden sollte, die Ampeln waren aber noch nicht in Betrieb gewesen. Er würde zehn Minuten warten müssen, oder länger, er wusste das. Die Baustelle erstreckte sich über mindestens einen Kilometer. Er überlegte, ob er wenden und den Umweg über Arrakoski fahren sollte. Aber das machte keinen Sinn. Die zusätzliche Strecke war zu lang, als dass er einen Zeitvorteil herausgeholt hätte. Zudem: Wenn das eintreten sollte, was er befürchtete, dann war er wohl so oder so zu spät. Er ließ die Scheibe herunter, stellte den Motor ab und zündete sich eine Zigarette an.

      Was hatte der alte Nieminen über die Ehe gesagt? Nichts. Er hatte nichts über die Ehe gesagt. Nein, hatte er nicht. Er hatte nur über das Scheitern gesprochen. Über das Scheitern? Eigentlich auch darüber nicht.

      »Frauen gehen weg, Männer gehen weg. Was wissen wir.« Das hatte er, Henrik, gesagt.

      »Du bist geschieden, Heikki«, hatte Nieminen darauf erwidert. »Du musst es wissen.«

      Du musst es wissen. Das war es. Da saß der Pfeil. Tief im Fleisch, immer noch. Nach so vielen Jahren.

      Was wissen wir.

      Nieminen hatte seinen Satz nicht akzeptiert. Eine Aussage ohne Wert. Wer geschieden ist, muss es wissen.

      Natürlich wusste er es. Die Fakten waren klar. Daran gab es nichts zu rütteln. Er zog den Rauch tief in die Lungen, als gelte es, dort etwas auszumerzen. Oder eine Leere auszufüllen. Wenn der Atem allein dazu nicht ausreichte.

      Heikki. Hier nannte ihn keiner bei seinem ursprünglichen Namen. Henrik war er nur als Knabe gerufen worden. In der Familie. In Österbotten, wo er aufgewachsen war. Wo man noch Schwedisch sprach. Er hasste das finnische Kürzel seines Namens. Andererseits war er froh darüber, denn es bedeutete, dass er akzeptiert war, dass er hier nicht mehr nur der Schwedischstämmige war.

      Er rauchte die Zigarette zu Ende, hastig, ohne Genuss. Aus der Gegenrichtung war noch kein Fahrzeug aufgetaucht. Er schaltete das Radio ein und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt zur Musik. Zu schnell. Viel zu schnell. Und dann ärgerte er sich, weil er aus dem Takt fiel.

      Ja, er hatte früh geheiratet. Zu früh und zu jung. Seine Jugendliebe. Sie waren schon zusammen zur Schule gegangen und wie Bruder und Schwester aufgewachsen.

      »Das kann nicht gutgehen«, hatte seine Großmutter die Verbindung bemäkelt. »Man heiratet nicht die Erstbeste.«

      Wenn aber die Erste die Beste ist? Sie hatten es nicht anders gewusst. Er nicht und Janna nicht. Janna war Lehrerin geworden. Sie liebte Kinder. Aber die Ehe blieb kinderlos.

      »Du hast sie ja in der Schule«, hatte er gesagt und gehofft, sie würde, wie er, im Job ihre Erfüllung finden. Wobei: Erfüllung, das war nun doch etwas zu pathetisch. Das war ein Pastorenwort. Gedacht hatte er vielmehr, sie würde abends von der Plackerei des Tages so hundemüde sein wie er, so dass da gar keine anderen Gedanken mehr Platz hätten. Die Gemeinschaft war praktisch. Man hatte ein Zuhause, man wusste, wo man hingehörte. Mehr konnte man doch nicht verlangen. So hatten sich die Jahre hingezogen, und jeder, glaubte er, hatte seinen Teil zum gemeinsamen Leben beigetragen.

      Aber dann hatte Janna ihm eines Tages eröffnet, dass sie schwanger sei. Nicht von ihm. Eine Woche später war sie ausgezogen und hatte sich mit dem Erzeuger ihres künftigen Kindes ein neues Nest gebaut.

      Seine Welt, die er wenigstens im Privaten als einigermaßen heil eingestuft hatte, frei von Hader, Zwist, Betrug und Blut, wie er es im Beruf täglich erlebte, seine Welt hatte einen tiefen Riss bekommen. Er war in Selbstmitleid versunken. Die Ersatzfrauen, die er getroffen hatte, waren davon wenig angetan gewesen. Zwei Jahre dauerte es, bis er sich auf sich selbst besonnen und wieder einen Marktwert erlangt hatte.

      Henrik machte eine unwillkürliche Bewegung mit der Hand, als wollte er all das Vergangene, Unerfreuliche wegwischen. Die Hand streifte die Frontablage über dem Armaturenbrett und hinterließ eine Spur im abgelagerten Staub. Als hätte sich eine Schlange durch den Sand gewunden.

      Verdammt, wie kam einer in diesem Alter dazu, auf die eigene Frau zu schießen?