Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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weiteren Schüsse mehr, dass er die Richtung hätte feststellen können, in der sich der Schütze befand. An die Jagdvorschriften hielt sich hier eh keiner. Vor die Flinte laufen sollte man hier niemandem.

      Plötzlich war er unsicher, ob er sich nicht verhört hatte. Ob es nicht nur der Traum gewesen war, der ihn aufgeschreckt hatte. Schließlich ging er doch zögerlich in den Wald hinein.

      Auf halbem Weg kam ihm Märta entgegen. In ihrem Gesicht stand alles, was er wissen musste. Sie sagte nichts. Sie starrte ihn nur an. Wie einen Fremden. Sie weinte nicht einmal. Das würde sie nachholen, wenn der Schock verebbte.

      Er griff ihr unter den Arm und führte sie zurück zum Wagen. Gepäck hatte sie keines dabei. Er verkniff es sich, danach zu fragen. Überhaupt wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Auf der ganzen Fahrt zurück sprach keiner der beiden ein Wort.

      Arto holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Zu jeder anderen Zeit hätte sich Marja mit verschränkten Armen vor ihn hingestellt. Jetzt warf sie ihm nur einen missbilligenden Blick zu. Er wusste es, ohne dass er hinschaute.

      Spielte es eine Rolle, ob Märta die Wahrheit sagte? Der Alte hatte geschossen, das stritt sie nicht ab. Eigentlich genügte das.

      Er riss die Lasche an der Dose auf und trank in langen Zügen. Das Bier schmeckte nicht wie sonst, dachte er, als er sich den Schaum von den Lippen wischte. Alles machte er kaputt, sein Schwager, dieses Arsch.

      »Ich ruf jetzt auf dem Posten an«, sagte er zu Märta und stellte die Bierdose energisch auf den Tisch.

      »Nichts wirst du«, mischte sich da überraschend Marja ein. »Das ist Frauensache, und wenn jemand anruft, dann ist das Märta selbst.«

      Arto hielt sich mit beiden Händen an seinem Gürtel fest. Er versuchte, die Hose höher zu ziehen, als sei sie nicht nur wegen seines Bauchumfangs tiefer gerutscht. Und als hätte er, zu spät wieder einmal, diesen Griff der Ohnmacht realisiert, schnaubte er durch die Nase, ließ den Gurt, wo er war, und griff sich das Bier. Er stiefelte aus dem Haus. Die Tür schlug hinter ihm zu. Wenig später hörte man, wie drüben beim Schuppen die Axt wütend in die Holzkloben fuhr. Jetzt war es an Marja, die Luft hörbar auszustoßen.

      »Also«, sagte sie und ließ das Abwaschwasser aus dem Trog laufen. »Wie war das nun genau? Er hat geschossen. So viel ist klar. Aber der Rest?«

      Märta schwieg. Das Wasser gurgelte im Siphon. Marja rieb die matt gewordene Abdeckung aus Inox-Stahl trocken.

      »Wie kam es, dass er plötzlich das Gewehr in der Hand hielt?«, fragte sie.

      »Ich weiß es nicht«, murmelte Märta.

      »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«

      Marjas Stimme war lauter geworden. Wenn sie an ihrer Schwester etwas hasste, dann dieses Kleinlaute. Dass sie sich so mutlos verhielt, statt die Fäuste zu ballen.

      »Du bist die Einzige, die dabei war – wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht du?«

      Märta hob hilflos die Schultern.

      »Du bist auf den Hof gekommen«, sagte Marja. »Und dort hast du deinen Mann angetroffen. Draußen, auf dem Hof, auf der Vortreppe. Er hat auf dich gewartet. Mit dem Gewehr. Er wusste, dass du auftauchen würdest. Du hast ihn ja angerufen. Du hast ihm am Telefon mitgeteilt, dass du kommen würdest. War es so?«

      Märta schüttelte den Kopf. Sie nestelte das Taschentuch aus der Schürzentasche. Als sie es endlich richtig gefaltet hatte, um die Tränen abzuwischen, hatte sie bereits vergessen, dass sie hatte weinen wollen.

      »Wo hast du ihn dann getroffen?«, fragte Marja ungeduldig. »Wo befand sich Matti?«

      »In der Küche«, sagte Märta. »Er saß in der Küche.«

      »Beim Schnaps«, stellte Marja fest.

      Ihre Stimme hatte einen verächtlichen Unterton.

      »In der Küche«, wiederholte Märta.

      »Beim Schnaps also«, blieb Marja hartnäckig. »Und dann sagtest du ihm, dass du ausziehen würdest.«

      »Nein«, wehrte Märta ab. »Nein.«

      »Nein?«

      »Nein.«

      »Märta!«

      Märta blickte erschrocken auf.

      »Sag mir die Wahrheit«, forderte Marja sie auf. »Die Wahrheit, Märta!«

      »Ich wagte nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.«

      Märta flüsterte es beinahe. Marja setzte sich zu ihr und hielt ihr die zitternden Hände.

      »Das glaube ich wohl. Aber wenn du es ihm nicht gesagt hast, hatte er doch auch keinen Grund, gleich das Gewehr zu holen?«

      Märta schwieg.

      »Märta, was hast du Matti gesagt?«, drang Marja in die Schwester, als diese keine Antwort gab.

      Märta hob hilflos die Schultern.

      »Wie nun also?«, fragte Marja ungeduldig.

      »Er hat es erraten« sagte Märta.

      »Hat er gesagt: Gib es nur zu, du willst mich verlassen – war es so Märta?«

      Sie nickte.

      »Du hättest es ihm sonst nicht gesagt?«

      Märta schüttelte den Kopf.

      »Ich wusste doch selbst nicht, ob ich das wirklich wollte.«

      »Aber jetzt bist du sicher?«, wollte Marja wissen.

      Märta nickte zögernd.

      »Dann rufe ich jetzt bei der Polizei an«, sagte Marja, »und du erzählst Henrik Nyström, was genau vorgefallen ist.«

      Märta schwieg. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Wie zum Gebet.

       Matti

      Matti hinkte über den Hof. Mit dem Stock hieb er nach den Steinen, die ihm in die Quere kamen. Das Gehen fiel ihm schwer. Die Hüften. Seit Jahren taten sie nur noch Dienst nach Vorschrift. Wäre er zum Arzt gegangen, hätte der ihm garantiert künstliche Gelenke aufgeschwatzt. Und wo das hinführte, sah er ja bei Oksanen. Der saß seither im Rollstuhl.

      Er schlug nach einem weiteren Stein. Traf er nicht beim ersten Mal, so gab es keinen weiteren Versuch. Er hätte sonst stehen bleiben müssen. Und das ging ja nicht, da er sich dann auf den Stock abstützte. Am Anfang hatte er noch mitgezählt, wie manchen Stein er auf Anhieb getroffen hatte. Seit die Trefferquote stetig abnahm, hatte er es aufgegeben.

      Traf der Stock, so gab der Alte ein glucksendes Geräusch von sich. Es war Arto, dem er den Hieb verpasste. Seinem Schwager, diesem falschen Hund. Und Marja. Natürlich steckte seine Schwägerin hinter allem. Sie hatte Märta so lange beackert, bis diese weich geworden war. Bis sie eingewilligt hatte in den nächsten Akt dieses Trauerspiels.

      Der Hund, der neben ihm hertrottete, schielte ängstlich nach dem Stock. Der Alte beachtete ihn nicht. Er ging quer über den Vorplatz, hinüber zum leeren Hühnerhof, dessen Gehege gleich angrenzend an den Brennholzschuppen lag. Das Drahtgeflecht war an mehreren Stellen vom Rost zerfressen und hing durch. Die kotverspritzte Leiter zum Hühnerhaus war eingebrochen. Das Holz war dort schwarz und schwammig. Um das Hühnerhaus, das auf hohen Beinen wie auf Stelzen stand, wucherte ein Urwald von Brennnesseln.

      Der Alte blieb stehen. Sein Stock kam zur Ruhe. Lange stierte er durch die ramponierten Drähte und zählte die Hühner ab, die der Fuchs im Lauf der Jahre an Ort und Stelle gerupft oder fortgetragen hatte. Aus Fuchsfellen hatte er sich nie etwas gemacht. Wenn er einen Fuchs geschossen hatte, oder auch einen Marder, dann hatte er die blutigen Tierkörper an die Vogelbeerbäume hinter dem Haus gehängt. Zur Abschreckung. Die Krähen hackten ihnen die Augen aus. Die Fliegen setzten ihre Brut darin ab. Erst wenn die Maden sich im verwesenden Fleisch dick