Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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das Jagdgewehr.

      »Dann soll es dir auch leidtun!«, schrie er ihr nach.

      Als er endlich auf der Vortreppe stand, war Märta bereits in den Waldweg eingebogen. Er hob das Gewehr in die Luft und erschrak selber, als sich plötzlich ein Schuss löste.

      Der Knall hatte ein Loch in den Himmel gerissen, und irgendwo war ein großer Vogel aus den Bäumen aufgeflattert.

      Das Brennen in der Hand hatte etwas nachgelassen. Der Alte starrte auf die Flasche. Die Flasche glotzte ihn an. Seine Hand zuckte. Aber er hielt sich zurück. Vor wenigen Jahren noch hätte er die Flasche gegen die Wand geschmissen. Die volle Flasche. Und hätte zugesehen, wie Märta die Sauerei wortlos aufputzte. Die andere Hand, die unverletzte, war wieder unruhig geworden und ging ihrer spinnenhaften Tätigkeit nach. Aber die Fliegen waren ihr bald zu wenig. Sie hatte Lust, in etwas Größeres zu greifen, in etwas Weiches, Zartes. Sie hatte Lust, zuzudrücken und nicht mehr loszulassen, bis dieses so aufreizend Unschuldige sich nicht mehr regte. Genau das machte den Alten so fuchsteufelswild: dieses ahnungslos Unschuldige, das niemandem etwas zuleide tun konnte.

      Plötzlich besann er sich auf die Kaninchenpistole. Seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Kaninchen besaß er zwar schon seit Jahren nicht mehr. Aber die Waffe war noch da. Er überlegte, wo er sie hingelegt hatte. Soweit er sich erinnerte, musste sie sich in der Werkstatt befinden. In einer Schublade. Doch Schubladen gab es viele in der Werkstatt.

      Ächzend stand er auf. Als er die Haustür öffnete, erhob sich der Hund, der auf der Vortreppe gelegen hatte, zog den Schwanz ein und ging dem Alten aus dem Weg.

       Olli

      Olli hatte das Fenster weit geöffnet. Für seine Begriffe war die Nacht richtiggehend schwül. Als ob sich die ganze Hitze des vergangenen Sommers noch in der Wohnung staute. Er hielt es jedenfalls nur in T-Shirt und Unterhose aus. Die Lautstärke des PCs hatte er leiser gestellt, damit die Nachbarschaft im Haus das Gestöhne nicht mitbekam. Reklamationen waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. Wie immer, wenn er zu neuem Stoff gekommen war, hatte er ausgiebig gekifft. Nun fläzte er sich auf dem Sofa und sah zu, wie sie es auf dem Bildschirm miteinander trieben. Er befand sich bereits zu tief in einer Wolke von Trägheit, als dass er noch hätte Hand an sich legen können.

      Rauchen, trinken, Hand an sich legen: Bei einigen Dingen pflegte er sich jeweils gewählter auszudrücken, als man ihm zugetraut hätte. Seit Irma ihn verlassen hatte, war er abgesackt. Da gab es nichts zu beschönigen. Nur die Sprechweise hatte er aufrechterhalten können. Alles andere schlitterte immer wieder gefährlich am Abgrund vorbei. Fünf Jahre war er mit Irma verlobt gewesen. Zu einer Heirat hatte er sich nie entschließen können. Weiß der Teufel, was ihn daran gehindert hatte.

      Er stierte mit offenem Mund auf den Bildschirm. Ohne Stöhnen war das nichts. Er hätte aufstehen und das Fenster schließen müssen, um den Ton lauter machen zu können. Die Anstrengung lohnte sich nicht. Vielleicht war Irma auch nur gegangen, weil er sie irgendwann gefragt hatte, ob sie beim Sex nicht mal ein wenig, also richtig, also hemmungslos geil stöhnen könnte. Irma wollte nicht. Sie fand das taktlos und abstoßend. Eine Zumutung. Überhaupt: eine Schweinerei! Irma wollte nicht stöhnen. Sie wollte geheiratet werden. Das Geschäft war nicht zustande gekommen.

      Natürlich hatte es nach Irma noch ein paar andere Frauen gegeben. Auch solche, die stöhnten. Schließlich war er mit siebenunddreißig noch nicht aus dem Rennen gewesen. Aber an jeder hing wieder ein unüberblickbarer Wust von Zwängen, Familie, Job und der ganze psychologische Scheiß, der seine kalten Finger um den Hals der Beziehung legte. So gab er es schließlich auf, entsagte, besann sich auf sich selber und die Vorteile des Internets, das sich per Tastendruck und Mausklick zu- oder ausschalten ließ.

      Die Zeit verging. Die Tage schrumpften, die Jahre versanken in Bedeutungslosigkeit. Nun war er bereits vierundvierzig. Irma sah er ab und zu, die Stadt war ja trotz ihrer Größe provinziell geblieben. Irma war jetzt verheiratet und hatte zwei Kinder, die bereits eingeschult waren. Er ging ihr aus dem Weg. Jedes Mal wenn er sie sah, beim Einkaufen, beim Eislutschen mit den Kindern, bei einer Auseinandersetzung mit der Tochter, deren vorpubertäre Ausbrüche erste Kratzer am Familienidyll hinterließen, jedes Mal kam eine seltsame Verlegenheit über ihn. Wie etwas Peinliches, er wusste nicht, was es war. Nein, er hatte nichts verpasst, schüttelte er unwillig den Kopf. Das war es doch, was ihm das Unterbewusstsein einflüstern wollte: Du hast es vermasselt. Du allein. Das alles hättest du haben können. Deine Kinder könnten es sein, deine Frau. Sie hätten dich aus dem Sumpf herausgezogen, worin du steckst, deine Frau und deine Kinder. Du hättest die Chance gehabt, endlich so zu werden wie alle anderen. Aber du hast es nicht gepackt. Du hast es weggeworfen. Du warst zu feige, du warst zu faul!

      Und wenn schon.

      Er angelte nach der Bierdose, die neben dem Bildschirm auf dem Couchtisch stand. Statt sie zu fassen, stieß er sie um. Der Inhalt, zum Glück nicht mehr viel, ergoss sich über den angebissenen Rest Pizza im Karton, der vom Fett schon ganz pampig geworden war. Pampig wie sein Bauch, den er sich in den eineinhalb Jahren zugelegt hatte, seit er vom Sozialdienst lebte und keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachging.

      Olli seufzte. Seine Augen suchten nach dem Plastikbeutel mit dem betörend duftenden Gras. Vielleicht lag er hinter dem Pizzakarton. Aus seiner halb liegenden Stellung konnte er ihn nicht sehen. Jedenfalls war das Gras nicht nass geworden. Mehr konnte man vom Leben nicht verlangen. Tat er ja auch nicht.

      Aber die Sache mit dem Sozialamt war schon mühsam. So mühsam, wie alles geworden war, seit er die Stelle verloren hatte. Jetzt hatten ihn auch die auf dem Arbeitsamt als kaum mehr vermittelbar eingestuft. Bei Pulkkinen & Söhne hatte er seinerzeit eine Anlehre als Maurer gemacht und anschließend im Betrieb bleiben können. Der Seniorchef, der seinen Vater kannte, hatte stets ein Auge oder zwei zugedrückt, wenn Olli, wie das quartalsweise vorkam, zu spät oder gar nicht zur Arbeit erschienen war.

      »Na, Olli«, brummte er jeweils, »wieder mal über die Stränge geschlagen? Jetzt aber los, in die Hände gespuckt, wir brauchen dich!«

      Und Olli hatte, beinahe militärisch stramm, die Hacken zusammengeschlagen vor so viel Großmut.

      Er hatte an einigen Wohnblocks mitgebaut, die hier an der Peripherie der Stadt standen, Blocks wie der, in dem er wohnte. Keine hochstehende Architektur. Nutzbauten eben. Aber man hatte am Abend sein Tagewerk überblicken können. Stein auf Stein, sauber gepflastert. Frisch gegossene Betonpfeiler und Betondecken. Und man hatte gewusst, warum man müde war, weshalb der Rücken schmerzte. Woher die Schwielen stammten an den Händen und die grauen Spritzer im Gesicht. Auch das Bier, das verdiente, hatte anders geschmeckt.

      Als der alte Pulkkinen in Pension gegangen war, hatten die Söhne den Betrieb umgekrempelt. Restrukturierung war das zugehörige Wort. Da war für ihn und ein paar andere kein Platz mehr gewesen. Primär müsse die Firma überleben, hatte es geheißen. Es tue ihnen leid, besten Dank für die geleisteten Dienste, man arbeite an einem Sozialplan. Nur wurde dann nichts daraus. Widrige Umstände. Schulterzucken. Das war‘s.

      Eigentlich hatte er ja alles, was er brauchte. Das Sozialamt bezahlte die kleine Wohnung. Die Arbeit fehlte ihm irgendwann auch nicht mehr. Im Gegenteil. Er benötigte für alles plötzlich viel mehr Zeit. Die Langsamkeit hatte ihn entdeckt, die Trägheit stand ihm zur Seite, und er fragte sich, woher er früher die Zeit genommen hatte, um überhaupt zur Arbeit zu gehen.

      Natürlich wäre er, wie einige ehemalige Kollegen, lieber mit einem dieser alten Ami-Schlitten herumgefahren, Spannweite drei Meter im Heck und Kotflügel so groß wie der Rumpf eines Kleinflugzeugs. Stattdessen hockte er noch immer in dem zerbeulten Volvo ohne Radkappen, der aussah wie ein zuschanden gerittenes Pferd. Wenn er durch das Quartier kurvte, blickten sich alle nach ihm um, weil der Motor röhrte, als falle gleich der Auspuff ab. Tat er aber nicht.

      Manchmal fuhr er mit der Kiste nach Norden, über Asikkala und Padasjoki nach Kasiniemi, geografisch und geschichtlich zurück in die Gegend, in der er aufgewachsen war und wo der Hof der Eltern stand. Er trauerte dieser Zeit nicht nach. Er fuhr nur hin, wenn eine finanzielle Zusatzspritze unumgänglich war. Die Allgemeinheit