Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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href="#uf03f1b52-8573-581d-888a-f50029e4e142">Märta

       Olli

       Matti

       Henrik

       Henrik

      Die Hand war fleischig, mit Venenästen, die bläulich zwischen den spärlichen Haaren hervortraten, die Haut blass wie die eines rohen Hühnerschenkels. Die Hand hockte auf der Tischplatte wie eine fette Spinne. Lauernd. In vorgetäuschter Trägheit. Plötzlich begann sie sich vorzuschieben, langsam, scheinbar ziellos, auf den Fingerkuppen wie auf kurzen, dicken Beinen. Sie tastete sich auf dem Wachstischtuch zwischen Bierlachen durch, wich Brotkrümeln aus, wanderte hierhin und dorthin, bis sie an eine der toten Fliegen stieß, die über den Tisch verstreut ein schwarzes Muster bildeten. Einen Augenblick verharrte sie reglos, wie erstaunt über den unerwarteten Fund oder vielmehr den nahen Triumph auskostend, dann zerquetschte sie das ausgedörrte Insekt mit einem hässlichen Geräusch zwischen Daumen und Zeigefinger.

      Es war eine linke Hand. Sie gehörte dem alten Nieminen. Matti Nieminen. Mit der rechten, an der zwei Finger fehlten, rauchte er. Die Finger dieser Hand waren gelbbraun vom Nikotin. Nieminen rauchte und hustete.

      Henrik Nyström fuhr jedes Mal zusammen, wenn der Alte hustete. Sein Husten erzeugte ein Geräusch, als ob die Lungenflügel unter Wasser stehen würden.

      Sie saßen in der Küche. Auf dem Tisch standen leere Bierdosen und eine halbvolle Flasche mit Wodka. Es stank nach Rauch, nach verschüttetem Alkohol und verdorbenen Essensresten. Nach Moder. Nach Altmännerurin. Die Gardinen am Fenster schienen seit Jahren nicht mehr gewaschen worden zu sein.

      Mattis Schnapsglas war leer. Der Besucher hatte an dem seinen nur genippt.

      »Ja«, brach Henrik schließlich das Schweigen und schob sein Glas etwas beiseite, »sie haben mich also hergeschickt.«

      Der Alte blies ihm den Rauch ins Gesicht. Er roch seinen faulen Atem.

      »Haben sie dich?«, sagte Nieminen. Und hustete.

      Henrik fuhr zusammen und schob das Schnapsglas noch ein bisschen weiter weg, sodass es außerhalb der Reichweite von Nieminens Speichelspritzern war.

      »Ja«, sagte er, »so ist das.«

      »So«, sagte der Alte.

      »Sie sagen, du habest auf Märta geschossen. Auf Märta Nieminen. Deine Ehefrau.«

      »So?«, stellte der Alte fest.

      Seine Finger hatten wieder ein totes Insekt ertastet und drückten zu. Es knackte. Ein Schütteln durchfuhr ihn. Er schien zu lachen.

      »Ja«, sagte Henrik, »deswegen bin ich da.«

      »Deswegen bist du da«, wiederholte der Alte. »Einen Grund gibt es immer, wenn einer von euch da ist. Grundlos kommt ihr nie. Aber was geht es dich an?«

      »Ich bin im Dienst«, sagte Henrik und klopfte auf seine Uniformjacke, damit die Worte das nötige Gewicht erhielten.

      »Das sehe ich«, sagte der Alte.

      Er drehte das verwitterte Gesicht zum Fenster. Als er sich nach einer Weile wieder umwandte, nahm er die dicke Hornbrille ab und rieb sich die trüben Augen.

      »Glaubst du das auch?«, fragte er.

      »Was weiß ich«, sagte Henrik. »Ich muss es überprüfen.«

      »So«, sagte Nieminen. »Überprüfen.«

      »Vielleicht könntest du mir dabei behilflich sein«, sagte Henrik.

      »Mir hilft auch keiner«, sagte Nieminen und zündete sich am glimmenden Stummel eine neue Zigarette an.

      Er verzog das Gesicht. Vielleicht hatte er Schmerzen. In diesem Alter haben sie fast alle Schmerzen, dachte Henrik. Irgendwo.

      »Märta behauptet, du habest mit dem Gewehr auf sie geschossen, als sie ihre Sachen holen wollte.«

      »Tut sie das«, stellte der Alte fest.

      »Sie sagt, der Schuss habe sie nur knapp verfehlt.«

      »Meinst du, mit diesen Augen trifft man noch?«, fragte Matti und setzte die Brille wieder auf.

      Die Gläser waren blind von Fett und Staub.

      »Wo hast du das Gewehr?«, fragte der Besucher.

      »Im Schrank«, sagte Matti und wies in den Flur.

      Als Henrik den Stuhl zurückschob, hob der Hund, der reglos unter dem Tisch gelegen hatte, den Kopf. Als er feststellte, dass es nicht Nieminen war, der aufstand, ließ er ihn mit einem Seufzer wieder auf die Pfoten sinken. Henrik erinnerte sich, wie der Hund in jungen Jahren auf ihn zugeschossen war, wenn er auf den Hof kommen musste. Wie er ihn verbellt und ihm an die Diensthose gewollt hatte. Die Zeit war auch an dem Tier nicht spurlos vorbeigegangen. Es war jetzt gewissermaßen altersmilde geworden. Henrik musste lächeln, als er unbeachtet in den Flur gehen konnte.

      Es war ein verhältnismäßig neues Jagdgewehr, womit er zurückkam. Er klinkte den Lauf aus und hielt ihn vor das Fenster ins Licht.

      »Damit ist geschossen worden«, sagte er. »Es kann noch nicht allzu lange her sein.«

      Matti reagierte nicht.

      »Matti, es bringt nichts«, sagte Henrik. »Du hast geschossen. Das ist unbestreitbar.«

      Der Alte hob fast unmerklich die Schultern.

      »Worauf?«, fragte Henrik.

      »Auf den Fuchs«, sagte Matti.

      »Wie lange ist das her?«

      »Das war gestern«, sagte der Alte.

      Er blickte das Gewehr an, nicht den, der es in der Hand hielt.

      Die Zeitangabe, überlegte Henrik, stimmte mit derjenigen von Mattis Frau überein.

      »Was wollte der Fuchs?«, fragte er.

      Matti sah ihn erstaunt an.

      »Hühner«, sagte er. »Was sonst?«

      Henrik wusste, dass der Hühnerhof der Nieminens seit Jahren leer stand.

      »Natürlich«, sagte er. »Hühner – was denn sonst?«

      Sie schwiegen. Nieminens Hand wanderte über das fleckige Tischtuch. Eine tote Fliege knackte. Eine lebende surrte an der Fensterscheibe.

      »Ich muss die Waffe beschlagnahmen«, erklärte Henrik.

      »Beschlagnahmen«, wiederholte der Alte.

      »Von Gesetzes wegen«, sagte Henrik. »Damit nicht tatsächlich ein Unglück geschieht.«

      »So«, sagte der Alte.

      »Ich meine, bei deinen schlechten Augen«, sagte Henrik.

      Er wandte sich zum Gehen.

      »Warum hast du auf Märta geschossen, Matti?«, fragte er im düsteren Flur.

      Aus der Küche drang das Geräusch von splitterndem Glas. Henrik machte die zwei Schritte zurück und blieb in der Tür stehen. Nieminen hatte das Glas in der Faust zerdrückt. Sein Atem ging rasselnd. Am Fenster surrte die Fliege. Henrik wartete.

      Der Alte blickte auf seine Faust. Blut und Schnaps tropften auf das Wachstuch. Henrik erwartete nicht, dass er eine Antwort erhalten würde.

      »Sie wollte weg«, begann Nieminen plötzlich.

      Er keuchte. Schwieg wieder.

      »Sie wollte weg«, wiederholte er. »Warum muss man plötzlich weg, wenn man es vierzig Jahre und länger ausgehalten