Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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sagte Henrik, »Frauen gehen weg, Männer gehen weg. Was wissen wir.«

      »Du bist geschieden, Heikki«, sagte Nieminen, »du musst es wissen.«

      »Meine erste ist auch davongelaufen«, bestätigte Henrik.

      »Aber nicht nach vierzig Jahren!«

      »Gründe gibt es immer«, sagte Henrik.

      »Gründe!«, lachte Nieminen höhnisch. »Als ob es die nicht schon vor zwanzig oder dreißig Jahren gegeben hätte!«

      Henrik machte wieder zwei Schritte in den Flur hinaus.

      »Wenn sie mich vor dreißig Jahren verlassen hätte, dann wäre es wegen einem anderen Kerl gewesen«, rief der Alte ihm nach. »Aber nach vierundvierzig Jahren?«

      »Gründe gibt es immer«, sagte Henrik.

      Er öffnete die Haustür und trug das Gewehr zum Auto. Er atmete tief ein, um den muffigen Geruch der Wohnung loszuwerden. Das Gewehr wickelte er in eine Decke und legte es in den Kofferraum. Als er die Hecktür zuschlug, stand der Alte auf einen Stock gestützt auf der Vortreppe.

      »Vielleicht hätte ich es verstehen können, wenn sie nach zehn Jahren gegangen wäre«, rief er. »Oder früher.«

      »Ich komme morgen mit Märta, damit sie ihre Sachen holen kann«, sagte Henrik und setzte sich in den Wagen.

      »Morgen«, sagte Nieminen.

      Henrik startete den Motor, hob die Hand und fuhr weg. Es war kurz nach fünf, und er würde rechtzeitig zu Hause sein. Annika würde sich bestimmt freuen.

      In Kuhmoinen hielt er an, um für die Kinder Süßigkeiten zu kaufen. Er betrat den Laden und ging nach hinten, wo das klebrige, gummiartige Zeug in grellen Farben lockte. Er füllte zwei Beutel mit allerlei merkwürdigem Getier.

      »Schon Feierabend?«, spottete Päivi, die an der Kasse saß.

      »Bald«, nickte Henrik und setzte dieses unverbindliche Lächeln auf, das seine Frau an ihm so hasste.

      Er bezahlte, nahm die beiden Beutel und verließ den Laden. Beim Anschlagbrett am Ausgang blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und studierte die Anzeigen. Jemand bot Nachhilfeunterricht für Schüler an. Einer wollte sein altes Boot loswerden. Die Kirchgemeinde machte Werbung für einen Basar. Dann fiel ihm ein handgeschriebener Zettel auf, dass jemand junge Kaninchen zu verkaufen hatte.

      Kaninchen.

      Hinter Henrik hustete jemand. Fliegen surrten im verglasten Eingang.

      Kaninchen. Hatte Matti früher nicht Kaninchen gezüchtet? Eine blaugeäderte, fleischige Hand tastete sich über ein schmutziges Wachstischtuch und zerquetschte die herumliegenden toten Fliegen. Mit einem hässlichen Knacken. Eine spinnenhafte, spärlich behaarte Hand tastete sich durch einen Wurf junger Kaninchen, die sich ängstlich in eine Ecke des Verschlags drängten. Unversehens griff sie zu und packte eines der Geschöpfe an den zarten Löffeln.

      Kaninchen. Kaninchen tötet man nicht mit einem Gewehr. Kaninchen tötet man mit einer Kaninchenpistole.

      »Verdammt!«, entfuhr es Henrik. Was, wenn der Alte nun vollends den Kopf verlor?

      Dass er nicht früher daran gedacht hatte! Er schnippte die Zigarette weg und eilte zum Wagen. Den Einkauf warf er auf den Beifahrersitz. Kein Gedanke mehr an Kinder und Süßigkeiten. Er startete den Motor und fuhr in hohem Tempo den Weg zurück, den er gekommen war.

       Märta

      »Und ob du diesen Mann anzeigen wirst!«, ereiferte sich Marja.

      Ihre Stimme schraubte sich durch das fließende Wasser in schrille Höhen. Das Besteck klirrte, wenn sie es auf das Abtropfbrett warf. Sie schien ihre Wut bis in die Fingerspitzen zu spüren.

      Märta saß am Küchentisch und betrachtete die sauber gewaschenen Gardinen. Ihre Schwester war fünf Jahre jünger. Das war der Unterschied, aus dem alle anderen Unterschiede hervorgingen. Darauf führte Märta es jeweils zurück. Weil es so am einfachsten war.

      »Aber …«, begann sie.

      »… er hat doch nur in die Luft geschossen«, machte Marja den Satz fertig.

      »Bei seinen Augen«, sagte Märta.

      »Bei seinen Augen«, wiederholte Arto, der unter der Tür aufgetaucht war, spöttisch.

      »Ja«, sagte Märta und knetete ihre Hände.

      Die Knoten an den Fingergelenken waren gerötet und schmerzten. Das Kneten half nicht. Sie wusste es. Aber es war unmöglich, dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen, wenn sie schmerzten. Immer hatten die Hände arbeiten müssen. Die Knoten zeugten davon. Man brauchte sich ihrer nicht zu schämen.

      »Da, schaut her«, hätte Märta sagen können, »diese Hände haben hart gearbeitet.«

      Aber sie sagte nichts. Es tat weh, die Hände zu betrachten. Weil sie nicht mehr zur Arbeit taugten. Sie beobachtete, wie Marjas Hände geschickt und flink mit Besteck und Geschirr hantierten. Dabei war sie doch auch schon siebenundsechzig. Aber Knoten hatte sie keine. An ihren Händen hatte sie keine geröteten, schmerzenden Schwellungen.

      »Du willst den Vorfall also melden?«, fragte Arto.

      Märta schüttelte den Kopf.

      »Ich an deiner Stelle würde das tun«, sagte er. »Wer weiß, was deinem Alten sonst noch einfällt.«

      »Er hat dich nicht nur bedroht«, sagte Marja. »Er hat es ernst gemeint. Der Dreckskerl!«

      Märta reagierte nicht. Die Katze, die neben ihr auf der Küchenbank lag, erhob sich gähnend, streckte die Läufe und sprang etwas ungelenk auf den Boden. Nach einem Blick in den leeren Futternapf strich sie an Artos Beinen vorbei und verschwand im Flur.

      »Warum willst du ihn immer noch schützen?«, fragte Marja. »Er hat es nicht verdient. Nein, das hat er nicht. Nach allem.«

      Nach allem. Märta hatte die beiden Worte gehört. Nach allem. Aber sie waren zu groß, zu schwer, als dass sie sie hätte begreifen können. Und doch musste sie darüber nachdenken, ob ihr Leben nicht verpfuscht gewesen war. Ja, verpfuscht. Von Anfang an. Das ganze lange, kurze Leben. Es war nicht das erste Mal, dass sie das dachte.

      Arto hatte sie hingefahren, als sie ein paar zusätzliche Sachen holen wollte. Eigentlich hatte sie nur zwei Tage bei der Schwester verbringen wollen. Wie jedes Jahr einmal. Denn seit Arto und Matti sich verkracht hatten, kamen weder Marja noch ihr Mann auf den Hof der Nieminens. So war das seit ihrem Streit, damals auf dem Sommerfest.

      Arto hatte sie hingefahren. Märta bat ihn, an der Kreuzung zu warten, wo der Zufahrtsweg zum Hof abzweigte.

      »Ich werde diesmal noch ein paar Tage länger bleiben«, hatte sie Matti am Telefon gesagt.

      Er hatte etwas Unverständliches gebrummt. Oder etwas, was sie gar nicht hören wollte. Dann hatte er aufgehängt.

      Sie ging nun auf dem gewundenen Fahrweg durch den Wald. Dort, wo die Sonne nicht hinkam, war es feucht vom Regen der vergangenen Nacht. In der Lichtung, in der nur vereinzelte Kiefern und Birken wuchsen, stand die Hitze aber noch sommerlich brütend. Es war Mitte August, und der Zenit des Jahres war längst überschritten. Wenn sie daran dachte, dass Matti den Winter hier draußen allein würde überstehen müssen, bekam sie beinahe wieder ein schlechtes Gewissen.

      Bei dem kleinen Mückentümpel blieb sie stehen. Er war vollkommen mit Entengrütze bedeckt. Von hier waren es noch hundert Meter bis zum Hof. Eine Wegbiegung und sie wäre da.

      Wie nur sollte sie es Matti sagen?

      Arto hatte die Scheiben heruntergelassen und im Autositz gedöst. Der Schuss hatte ihn in einem seltsamen Traum erwischt, und im ersten Augenblick wusste er nicht, ob er selber getroffen war. Er stieg aus dem Wagen und horchte. Da war nur das Summen der Insekten und ein leichter Luftzug, der durch die