Steine zählen. Thomas Röthlisberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Röthlisberger
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906907598
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sollte er mit einem Haus voller verstaubter Fuchsschwänze?

      Er machte sich eigentlich auch nichts aus Hühnern. Aber als junger Mann hatte er die Eier roh geschlürft. Und mit einem kräftigen Schluck Wodka anschließend die Speiseröhre geputzt. Da war er so richtig im Saft gewesen. Er gluckste. Im Saft war er gewesen. Mutwille und Kraft fuhren wie Stromstöße durch seinen Körper. Er fühlte sich niemandem unterlegen. Niemand! Wie auch?! Was er fühlte, war das Leben. Das Leben, das er verkörperte, er selber. Es gab Augenblicke, da bewegte er sich nahe an der Unsterblichkeit. Ja, so war das gewesen. Gewesen.

      Der Husten schüttelte ihn.

      Eier. Später hatte Märta die dicken Eierpfannkuchen gebacken, nach dem Rezept ihrer Großmutter. Eine Spezialität der Åland-Inseln. Er hatte sich nie satt essen können daran.

      Aber irgendwann waren dann auch vom letzten Huhn nur noch ein paar schäbige Federn zurückgeblieben, und er hatte sich geweigert, ein weiteres Mal neue Hühner zu kaufen.

      »Wir haben einen nichtsnutzigen Hund«, hatte er Märta beschieden. »Das reicht. Oder glaubst du, ich will auch noch alle hergelaufenen Füchse ernähren?«

      Nur: Die Füchse hatten ihm das nicht abgenommen mit dem leeren Hühnerhof. Die strichen nachts trotzdem ums Haus. Was wusste dieser Nyström schon? Keine Ahnung hatte er. Zugezogen war er, nicht von hier. Stand immer auf der Seite der Frauen, auch wenn seine eigene … Aber er hatte ja wieder eine neue.

      Der Alte hieb mit dem Stock auf das Drahtgeflecht, dass es schepperte. Der Hund machte erschrocken einen unbeholfenen Sprung zur Seite. Matti hatte sich mit dem Stock in den Zaunmaschen verheddert und wäre beinahe gestürzt, als er ihn endlich herausreißen konnte.

      »Teufel auch!«, fluchte er.

      Er war ein verdammt alter Mann geworden. Mit trüben Augen und unsicheren Beinen. Manchmal schlug diese Hilflosigkeit in ohnmächtige Wut um. Früher hätte er alles kurz und klein geschlagen. Früher. Bis wann hatte dieses früher gedauert? Seit wann konnte er nicht einmal mehr mit den Zähnen knirschen?

      Und schießen? Bestenfalls in die Luft. Da lachten sich die Füchse krumm. Dabei hatte es eine Zeit gegeben, da war nichts vor ihm sicher gewesen. Da hatte er auf alles geschossen, was sich in seinem Waldrevier bewegte. Oder auch nur am falschen Ort stand. Das war vom einsamen Fliegenpilz über keifende Elstern und streunende Hunde gegangen, bis zu den mit dem Bus aus Bulgarien oder der Ukraine hergekarrten Beerenpflückern.

      Der Hund winselte.

      »Komm her«, sagte der Alte.

      Das Tier bewegte die Ohren, blieb aber auf Distanz.

      »Blödmann!«, zischte Matti.

      Er schlug mit dem Stock nach ihm und schwankte. Der Hund wusste, dass er außerhalb der Reichweite des Stocks saß. Er rührte sich nicht, ließ aber den Alten nicht aus den Augen.

      »Hau ab!«, brüllte Matti. »Hau ab!«

      Der Hund leckte sich am haarlosen Bauch, dann trollte er sich.

      »Ja, geh nur – geht nur, alle miteinander!«, schrie Matti. »Verdammtes Pack!«

      Plötzlich durchfuhr ihn ein Schüttelfrost, als hätte er Fieber. Seine rechte Hand schmerzte, und als er hinsah, blutete sie noch immer.

      Er ging zurück zum Haus. Auf der Vortreppe musste er sich ausruhen. Früher hatte er die drei Stufen in einem Schritt überwunden.

      In der Küche lagen die Glasscherben wie kleine, glitzernde Eisstücke auf dem Tisch. In den Pfützen auf dem Wachstischtuch trieben zerquetschte Fliegen.

      Matti setzte die Schnapsflasche an und schluckte, bis er husten musste. Er trug die Flasche zum Ausguss und goss den restlichen Inhalt über die blutende Hand. Vor Schmerz verzog er das Gesicht. Er sah es im Spiegel, der an der Wand hing. Alt war er geworden. Und schwach. Die Jahrringe kerbten sich immer tiefer ein. Er wusste es. Und die anderen wussten es auch. Er war verwundbar geworden. Sie bliesen zur Jagd. Jetzt hatten sie ihm Märta genommen. Das Wild war angeschossen. Glaubten sie. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis sie ihn zur Strecke bringen würden. So lautete ihre Rechnung. Sie hatten die Polizei geschickt. Das Gewehr war weg. Vom Jäger war er plötzlich zum Gejagten geworden.

      Ein Zittern lief durch die verletzte Hand. Der brennende Schmerz blieb. Matti ging in die Vorratskammer und holte eine neue Flasche. Er stellte sie auf den Tisch, aber er öffnete sie nicht.

      Als er zum Haus gekommen war, stand die Tür offen. Er hatte sie wohl nicht richtig geschlossen, als er mit dem Hund in den Wald gegangen war. Aber dann hörte er, dass jemand im Haus war. Aus der Schlafkammer im Obergeschoss vernahm er das quietschende Reiben von Schubladen, die aufgezogen und zugeschoben wurden. Wer kam denn auf die absurde Idee, in dieser armseligen Hütte etwas stehlen zu wollen? Beinahe hätte er laut aufgelacht bei diesem Gedanken. Nein, das war irr! Trotzdem versuchte er, sich leise zu bewegen, als er zum Schrank ging im Flur und das Gewehr hervorholte. Das Knacken, als er den Hahn spannte, durfte der Eindringling dann ruhig hören. Einen Augenblick blieb es oben ganz still.

      »Bist du das, Matti?«

      Es war Märtas Stimme, und im ersten Moment war er froh, dass sie es war. Er stellte das Gewehr in den Treppenaufgang.

      »Was zum Teufel machst du da oben?«, fragte er, und die Erleichterung hatte sich bereits wieder verflüchtigt.

      »Märta!«, rief er, weil sie nicht Antwort gab.

      »Gleich«, rief sie jetzt, und er hörte, dass sie herunterkam.

      »Haben sie dich rausgeschmissen?«, grinste er, als sie auf dem Treppenabsatz stehen blieb.

      »Wie meinst du das?«, fragte sie.

      »Na, weil du schon zurück bist.«

      »Ich bleibe nicht«, sagte Märta.

      Das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

      »Du bleibst nicht?«

      »Nein. Ich wollte nur ein paar zusätzliche Sachen holen.«

      Er sah sie scharf an. So scharf, wie das bei seinen Augen noch möglich war. Märta zuckte zusammen und wich seinem Blick aus.

      Matti sah, dass sie log. Eigentlich hatte sie sagen wollen: Ich bleibe nicht länger hier. Sie hatte sich nie verstellen können, ihm gegenüber nicht und auch sonst niemandem. Ein offenes Buch war sie, eine miserable Schauspielerin.

      »Du willst mich verlassen«, sagte er kalt.

      Sie zuckte zusammen.

      »Matti …«

      »Ich weiß alles«, sagte er.

      »Nein, Matti, ich …

      »So weit hat dich diese Brut also gebracht«, stellte er fest. »Hetzt meine Ehefrau gegen mich auf!«

      Er presste die Worte durch die Zahnstummel, dass der Speichel spritzte.

      »Du verstehst das falsch«, versuchte Märta ihn zu beschwichtigen.

      »Du konntest noch nie lügen«, gab er zurück.

      »Es geht doch nur um ein paar Tage«, sagte Märta.

      »Erzähl das deiner fürsorglichen Schwester«, zischte Matti. »Soll sie dich behalten! Vielleicht wird der Schwager noch mehr Freude an dir haben.«

      »Ich bitte dich, Matti«, flehte Märta.

      Ihre Stimme hatte jetzt diesen weinerlichen Ton, den Matti über alles hasste.

      »Geh nur – los, geh!«, sagte er. »Hau einfach ab!«

      Verängstigt versuchte sie, sich an ihm vorbeizudrücken, um zur Tür zu gelangen. Er hinderte sie nicht.

      »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht …«

      »Was tut dir leid?«, brüllte er.

      Sie sah, dass er nach dem Gewehr griff, und eilte zur Tür hinaus.