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Nasser war liebenswürdig und wir waren schnell sehr vertraut, doch um nicht kindisch zu erscheinen, vermieden wir Sätze wie: »Es ist, als würde ich dich schon lange kennen.« Dabei hätte dieser Satz unsere momentane Situation am besten beschrieben. Nasser gab seine Erschöpfung offen zu, aber trotz seiner Trauer habe er in den letzten Tagen immer wieder an meine Worte, mein Lächeln und die Berührung meiner Hand denken müssen und sich daraus eine »Wolke« geschaffen, die ihn »gegen die harte Zeit abgeschirmt« habe. Diese schöne Beschreibung berührte mich.
Als wir auf Aleppo zu sprechen kamen und er zu erzählen begann, suchte ich nach einem anderen Ausdruck für das Klischee: »Die Welt ist klein«. Das Haus seines Großvaters war jene elegante Villa aus rosafarbenem Stein auf der Nordseite des Stadtparks im Viertel Azizieh, die zwischen der Wohnung meines Großvaters und dem Bagdad-Bahnhof lag. Und sein Großvater war der Rechtsanwalt Bahdjat al-Haffar.
»Was? Was, die Villa vor der Cocktail-Bar Kan ya ma kan? Ich spürte einen leichten und freudigen Schwindel, und wir schwiegen eine Weile.
›Wenn du wüsstest, Nasser. Wenn du wüsstest, Nasser. Ich könnte dir aufzählen, wie viele Zaunpfähle den kleinen Garten umgaben, welche Farbe die Stühle auf dem Balkon hatten, welche Pflanzen in den Blumentöpfen auf den breiten Brüstungen wuchsen … Auch von dem Chinarindenbaum vor dem kleinen Tor zur Nebenstraße, wo ich nicht hindurfte, wenn ich mit meinen Cousins und Cousinen draußen gespielt habe, könnte ich dir erzählen.
Vielleicht war deine Mutter Shahira also die Frau, die damals immer im Morgenmantel, mit Lockenwicklern in den Haaren und leuchtendrotem Lippenstift auf den Balkon trat, um uns zu sagen, wir sollten verschwinden oder wenigstens ein bisschen leiser sein. Und ich war das Mädchen, das auf der Gartenmauer eurer Villa saß, den Rücken gegen das Eisengitter gelehnt und die Füße auf eine große Wucherung am Stamm des Chinarindenbaums gestützt.‹
Ich nannte Nasser Beweise dafür, dass wir vom selben Ort sprachen, und wir lachten beide ungläubig über diesen Zufall, der unsere Leben verband.
»Kennst du das Haus der Kayyalis? Sie waren eure Nachbarn«, fragte ich.
»Meinst du Frau Ra’ifa? Natürlich!«
»Ra’ifa war die Schwester meiner Oma, wir nannten sie Nana Umm Baschar. Und die Wohnung meines Opas war in dem großen Haus, das Joseph Nassur gehörte, am Anfang der Straße, genau gegenüber vom Park.«
»Nein, nein, nein, das kann ja nicht wahr sein! Unter euch war Abdus Fahrradgeschäft …«
»Abdu kennst du also auch! Unglaublich!«
»Bei ihm haben wir immer unsere Reifen aufpumpen lassen, bevor wir durch den Park fuhren. Was ist aus ihr geworden?«
»Aus wem?«
»Frau Ra’ifa.«
»Sie ist tot. Sie bekam einen Schlaganfall und ist gestorben.«
»Es gibt keine Macht, noch Stärke außer bei Gott. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein. Und ihr Sohn Baschar, wohnten er und seine Frau nicht auch bei ihr?«
»Genau. Sie sind dann nach Neu-Aleppo gezogen. Die Wohnung war noch nach dem alten Gesetz gemietet.«
»Und eure Wohnung, die Wohnung deines Großvaters meine ich?«
»Sie gehörte ihm, und meine Großmutter wohnt noch immer dort. Unter den gegebenen Umständen ist es ein sicheres Viertel, deshalb ist meine Tante mit ihrer Familie zu ihr gezogen. Deren Wohnung liegt in Mokambo, das ist eine heiße Gegend.«
Frau Ra’ifa, wie Nasser sie nannte, oder Nana Umm Baschar, wie sie bei uns hieß, war eine alte Nachbarin des Hauses al-Haffar. Sie war frisch verheiratet dort eingezogen, zu einem Zeitpunkt, als Madiha Hanim, Nassers Großmutter, bereits in der Villa wohnte. Ich erinnerte mich noch genau an Frau Ra’ifa, sie kam täglich zum Morgenkaffee zu ihrer Schwester, meiner Großmutter. In den Sommertagen, die wir in der Wohnung meines Großvaters in Aleppo verbrachten, stand ich besonders früh auf, um sie und ihre schönen Geschichten nicht zu verpassen. Sie war damals Ende fünfzig und ich zehn. Wenn sie morgens aus dem Haus ging, schlug sie einen Mantel um ihren gedrungenen Leib mit den schmalen Schultern und dem prächtigen Hinterteil. Darunter trug sie noch das hellblaue oder rosarote Valisère-Nachthemd, dessen spitzenbesetztes Dekolleté die kleinen, mageren Brüste durchscheinen ließ, mit denen sie fünf Töchter und zwei Söhne genährt hatte.
Genüsslich schlürfte sie ihren Kaffee aus den mit Romeo-und-Julia-Motiven bemalten Tassen meiner Großmutter und berichtete uns von den Konflikten zwischen der Regierung und den Muslimbrüdern in Hama, von denen uns unser Onkel nichts erzählte:
»Als sie kamen, um das Haus der Bayraqdars zu durchsuchen, versteckte der Hausherr seine Pistole im Heizofen, der von den Wintertagen her noch dastand. Der Offizier und seine Männer betraten das Haus, stellten es auf den Kopf und fragten den Hausherrn nach Waffen. Er verneinte, aber sein kleiner, vierjähriger Sohn, der gesehen hatte, wie sein Vater die Pistole versteckt hatte, plapperte los: ›Onkel, die Pistole ist da!‹, und zeigte auf den Ofen. Augenblicklich verhaftete man den Vater, der für immer verschwunden blieb.« Nana Umm Baschar murmelte noch etwas, seufzte und schloss mit den Worten: »Nun, ja, Gott verschone seine Diener mit solchen Dingen!« Nachdem sie ihr tägliches Füllhorn voller Geschichten geleert hatte, verließ sie die Wohnung meiner Großmutter und ging rüber zu Frau Schahira, Nassers Mutter, die inzwischen ebenfalls aufgewacht war und in Erwartung Ra’ifa Hanims den Kaffee aufs Feuer gestellt hatte.
Nana Umm Baschar hatte zwei Söhne, Baschar und Fatih. Baschar war praktischer Arzt ohne Facharztausbildung und wurde, als langgedienter Baathist, zum Hygienebeauftragten für die Restaurants in Aleppo ernannt. Dies war ein sehr angesehenes Amt, denn Aleppo war berühmt für seine Küche, die den türkischen Mittelmeergeschmack mit der arabischen Tradition verband. Doktor Baschar hatte viel zu tun und besaß großen Einfluss, schließlich war er für die Lizenzen verantwortlich und ahndete Verstöße gegen die Reinheits- und Hygienevorschriften. Vom mobilen Händler für Lakritz und Sahlab über die Sandwichläden bis hin zu den luxuriösesten Hotels gab man sich die größte Mühe, ihn zufriedenzustellen. So kochte Nana Umm Baschar fast gar nicht mehr, sondern bezog all ihre Mahlzeiten reihum von den verschiedenen Restaurants. Vor ihrer Wohnung parkten stets die unterschiedlichsten Fahrzeuge: Fahrräder, deren Fahrer mit Zellophan verpackte Schüsseln auf der Hand balancierten, Motorroller mit in Papiertüten gestapelten Tellern auf dem Gepäckträger und Autos, die bestimmten Restaurants gehörten und aus denen man Speisen und Getränke in mannigfaltigen Farben entlud. Zum Mittagessen gab es bei ihr immer Gegrilltes und Kibbeh Nayyeh, zum Abendessen Wurst- und Schawarma-Sandwiches. Ihr Frühstück aber bestand aus syrischem Grießpudding und Puddingteilchen mit Sahne und Haselnüssen. Zu den Abendveranstaltungen im Aleppo-Club, im Jalaa Sporting Club oder im Restaurant Sirubian war immer ein Tisch reserviert, und auch ihre Angehörigen und Gäste kamen in den Genuss dieser Vorzugsbehandlung.
Fatih hingegen, ihr zweiter Sohn, war schon in jungen Jahren bei ihr ausgezogen, weil er von all dem sündhaften Essen, Geld und Einfluss seines Bruders nicht profitieren wollte. »Doch wenn dich deine Eltern drängen, dass du mir etwas beigesellst, wovon du gar kein Wissen hast – gehorche ihnen nicht!«, hatte er damals zu seiner Mutter gesagt. Seit seiner Pubertät stand Fatih unter dem Einfluss seiner Cousins, der Söhne seiner Tante Sumayya, die in der Organisation der Muslimbrüder Rang und Namen besaßen. Sie hatten ständig über den Bruder hergezogen und ihm die Augen für dessen Sünden geöffnet. Eine subtile Mischung aus Einschüchterung und Versprechen bewirkte, dass er sich ihnen anschloss und später zu einem aktiven Mitglied ihrer Vereinigung wurde.
Fatih hielt sich lange von der Wohnung seiner Mutter fern, erst vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Aleppo im Jahr 1980 erschütterten, bekam sie ihn wieder zu Gesicht. An jenem Abend, an dem eine Ausgangssperre verhängt worden war – im Juni hatten sich die Tore der Hölle