Auch meine Tante Dalia liebte Mayada al-Hannawi, ihr Aussehen, ihre Lieder, ihre tiefe Melancholie und ihre leuchtende Haut, durch die eine engelsgleiche Seele schimmerte. Sie war überzeugt, ihr zu ähneln, und wir alle stimmten zu. Schließlich hatte sie denselben Haarschnitt, wechselte genau wie Mayada leicht die Farbe und ahmte ihr Make-up und ihren Nagellack nach. Und wenn Mayada eine neue Kassette herausbrachte, musste sie sie sofort haben.
Am Abend rief Dalia endlich an und sagte, sie habe über Schleichwege von der Universität das Haus ihrer Freundin im Viertel Sulaimaniyeh erreicht, und wenn man sich wieder sicher fortbewegen könne, würden deren Eltern sie nach Hause bringen. In Wirklichkeit telefonierte meine Tante jedoch aus dem Haus gegenüber, nämlich aus dem des Eisenbahndirektors. Sie war an jenem Tag gar nicht in der Universität gewesen, sondern hatte die Zeit mit Basil in seinem Zimmer verbracht.
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Die Hauptzufahrt zum Bahnhof führte seit Ende der 80er Jahre weiter zur Tischrin-Brücke. Nach Mitternacht kam das Leben in der westlichen Straße zur Ruhe. Bis um zwei Uhr der Nachtzug aus Damaskus eintraf, versank die Umgebung in willkommener Stille. Danach war es wieder still bis zum Sechs-Uhr-Zug aus Latakia. Zwischen Mitternacht und der Ankunft des Zuges aus Damaskus brachte Basil dem Wachposten an der Tür eine Flasche Djuwayyids Andarin-Arak und ein Kilo Grillkebab. Dalia hatte sich dann schon vergewissert, dass alle in tiefem Schlaf lagen, schloss leise die Tür und schlich die wenigen Schritte über die Treppe bis auf die rechte Hausseite, überquerte dann die Straße zum Nachbarhaus und trat geradewegs in Basils Zimmer, das zum Garten hin eine Seitentür hatte, sodass man nicht durch den Haupteingang musste. Basil liebte Dalia von ganzem Herzen. Wenn er sie traf, küsste er ihr jedes Mal vor Leidenschaft seufzend die Hände. Dalia war wunderschön, blond, mit honigfarbenen Augen und schlankem weißen Körper. Sie trug stets hochgeschnittene Straight-Fit-Jeans von Lee und eine blau-weiß-rote Karobluse, die an der Brust eng anlag und die sie vorne oder seitlich über der Hüfte verknotete, um die Rundung ihrer Brüste und ihre schlanke Taille zu betonen. Sie sah aus, als sei sie der Serie »Die Leute von der Shiloh Ranch« entsprungen. Ihre Nägel waren lang und gepflegt und hübsch anzusehen mit dem glänzendroten Lack, der schillerte, wenn sie an ihrem kleinen Schreibtisch in den Nachschlagewerken und Wörterbüchern blätterte oder ihre heißgeliebten Pastetchen aß. Die brachte ihr Basil jeden Abend von »Sumer« oder »Sirup«. Flink lief ich dann die zwanzig Stufen hinunter, um die Tüte von ihm in Empfang zu nehmen, und Dalia gab mir welche ab. Freitags bewahrte sie ihre Pastetchen immer bis Mitternacht auf, damit wir sie essen konnten, während wir die Serie »Das Schiff der Liebe« schauten.
In einer jener Sommernächte lud Basil Dalia in die Zitadelle ein, wo das russische Bolschoi-Theater das Ballett »Der Nussknacker« gab. Basil war über seinen Vater an Freikarten gekommen, die man den meisten großen Staatsfunktionären zugeteilt hatte. Dalia überredete meine Großmutter, sie gehen zu lassen, ihre Kommilitoninnen seien schließlich auch da. Nur unter der Bedingung, dass Dalia mich als Begleiterin mitnahm, war meine Großmutter einverstanden, und so hatte Dalia keine Wahl.
Wir stiegen also hinauf zum Amphitheater in der Zitadelle. Es war einer der milden Juliabende Aleppos mit ruhiger Brise, einem leuchtenden Sternenhimmel und einem Mond so klar wie alles in dieser Stadt: die Steine, die Wege, das Handwerk, der Handel die Meinungen. Viele Geheimnisse gab es hier nicht.
Bei den federnden Tritten der Tänzer, der genialen Musik Tschaikowskys und dem leichten Wind döste ich ein und überließ Dalia in ihrem ärmellosen roten Seidenkleid Basils Liebkosungen. Er konnte nicht von ihr lassen, küsste sie von Zeit zu Zeit in den Nacken und vergrub die Nase in ihren blonden Locken, die den Apfelduft ihres Hamol-Shampoos verströmten. Plötzlich jedoch riss mich ein lautstarker Tumult aus dem Schlaf. Basil und Dalia sprangen auf, sie zog mich an der Hand mit sich fort. In unserer Reihe, die für die Gäste des Eisenbahndirektors reserviert war, hatte auch eine Frau um die Dreißig mit einem etwa sechsjährigen Mädchen gesessen. Die Frau war beeindruckend, groß und üppig, mit blauen Augen und blondem Haar. Durch den Schlitz ihres schwarzen Seidenrocks blitzten ihre hellrosa Oberschenkel, und an den Fingern glitzerten echte Diamantringe. Ihre Tochter sah ihr ähnlich, sie war sehr niedlich und fein herausgeputzt. Und an jenem Abend fand Basil heraus, dass diese Frau mit seinem Vater verheiratet und das kleine Mädchen seine Schwester war! Während der Vorstellung, hatte er mit der Kleinen geschäkert und sie nach ihrem Namen gefragt. Sie hatten beide denselben Familiennamen, denselben Vatersnamen, und der Beruf des Vaters war auch derselbe. Schon vor längerer Zeit hatte der Eisenbahndirektor Ghada, seine Angestellte im Hauptbüro der Direktion, zur Frau genommen, doch sie hatten ihre Ehe geheim gehalten, insbesondere weil sie Sunnitin war und er Alawit.
Nach diesem Ballettabend änderte sich einiges im Hause des Eisenbahndirektors. Denn Basil ließ sich sein Stillschweigen von seinem Vater in barer Münze bezahlen, damit die Heirat vor dem Rest der Familie geheim blieb.
Auch im Hause meines Großvaters wurde vieles anders, denn meine Tante Radscha kehrte aus Saudi-Arabien zurück. Sie hatte sich mit einem der Söhne ihrer Tante Sumayya verheiratet, die wir »Mutter der Brüder« nannten. Radscha trug Hidschab und war heimgekommen, um zu Hause – auf ihre Art – den Islam zu predigen. So wurde am Ende des Sommers der Hidschab zum Thema für die Frauen im Haus, meine Großmutter legte ihn ebenso an wie Tante Dalia, die vor Reue über die Tage, die sie unverschleiert in Basils Armen verbracht hatte, heiße Tränen vergoss. Auch Basil verschleierte sich auf seine Weise, oder besser auf Dalias Weise, denn sie fing an, ihm Predigten zu halten. Das setzte ihm psychisch so sehr zu, dass er sich ins Gebet stürzte und die nahegelegene Tauhid-Moschee nicht mehr verließ.
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Jeden Abend ging die Sonne Aleppos glühendrot hinter dem Haus des Eisenbahndirektors im Viertel des Bagdadbahnhofs unter. Die Taxifahrer kannten die Ankunftszeiten der Züge und drängten auf die Bahnsteige, waren jedoch samt Fahrgästen schon wieder verschwunden, bevor die grauroten Wagen der »Syrischen Eisenbahn« erneut anfuhren.
Zu Beginn des neuen Jahres zogen Basil und seine Familie aus. Mit Koffern bepackt verließen sie das Haus, traten durch den Bahnhofseingang nebenan, bestiegen den Zug nach Latakia und kehrten nie mehr zurück.
Dalia hatte nicht ein Abschiedswort für Basil übrig. Eine Nacht vor seiner Abfahrt hatte sie sämtliche Fenster zur westlichen Straße hin geschlossen, sodass es im Schlafzimmerflügel stockfinster war.
Sie behauptete, Basil sei verrückt gewesen. Wie bei allen Funktionärskindern habe das Leben für ihn nur aus Autos, Chauffeuren und Pistolen bestanden. Einmal habe er sie vom Bus abgeholt und gefragt: »Komisch, warum sind denn alle Passagiere grün gekleidet?« Dabei klebte nur eine transparente grüne Folie auf den Scheiben der öffentlichen Busse. Ein andermal habe er vor ihr geprahlt, er hätte große Lust, mit seinem Auto in die Menschen zu rasen, die vor der Konsumgenossenschaft Schlange standen und auf Olivenöl, Butterfett und Kleenex-Tücher warteten, nur um zu sehen, wie sie durch die Luft flögen und die Röcke der Frauen aussähen wie umgedrehte Schirme und den Männern die Schuhe auf den Kopf fielen. Dann wieder habe er behauptet, sie und ihre Familie seien arm, denn sie hätten nur einen armen Chauffeur, ein armes Hausmädchen und einen armen Wachmann. Außerdem hätten sie nur einen einzigen Mercedes und sonst nur Peugeots. Wer dagegen beim Gouvernement arbeite, sei reich. Deshalb seien er und seine Familie reich, schließlich hätten sie nur Mercedes.
Und an jenem Abend, an dem Basil in der Zitadelle von der Zweitehe seines Vaters erfuhr, habe er sie mit sich fortgezogen, berichtete Dalia weiter. Sie seien in eine abgestellte Lokomotive gestiegen, und er habe beschlossen, sie zu entführen. Mit einer offensichtlich ungeladenen Pistole habe er den Lokführer dazu gezwungen, ihn mit der Lokomotive in das fünfzehn Kilometer entfernt gelegene Dschibrin zu fahren. Während Dalia Basil unter Tränen gebeten habe aufzuhören, habe der Lokführer nachgegeben.
Wenn Basil beten wollte, ging er in die Moschee, wobei fraglich war, ob er vorher die Waschung korrekt vollzogen hatte, und stellte sich in die zweite Reihe. Einmal stand vor ihm