Schon vor diesen heftigen politischen Geburtswehen, nämlich im Jahr 1920, hatte meine Großmutter meinen Onkel Yusuf geboren. Er wurde kurz nach der Schlacht von Maysalun geboren, in der Yusuf al-Azmah, Kriegsminister in der Regierung Faisals I., gefallen war. Nach diesem Yusuf wurde mein Onkel benannt, und das sollte sich auf sein Schicksal auswirken, denn mehr als vierzig Jahre später wurde er Minister der Regierung der Arabischen Republik Syrien, die nach der Abspaltung von der Vereinigten Arabischen Republik auf die syrisch-ägyptische Einheitsregierung folgte.
Nach Onkel Yusuf bekam meine Großmutter nur noch meine Tante Laila, denn nachdem mein Großvater zwei weitere Frauen geheiratet hatte, die ihm fünf Jungen und vier Mädchen gebaren, verweigerte sie sich ihm.
Erst im Jahr 1936 wohnte mein Großvater meiner Großmutter nach mehr als zehn Jahren Trennung wieder bei, und sie wurde mit meinem Vater schwanger, und zwar als die französische Artillerie mit noch nie dagewesenem Brutalität Raqqa in Trümmer legte und die Familie für zehn Tage in einen Unterschlupf an der Straße nach Deir al-Zor zog, der sonst als Speicher für Butterschmalz, Olivenöl und Dörrfrüchte diente.
Ende des Zweiten Weltkriegs beendete mein Onkel Yusuf in Damaskus ein Medizinstudium, während seine Halbbrüder auf den ausgedehnten Ländereien ihres Vaters arbeiteten. Meine Großmutter saß in ihrem Zimmer, das auf ihren prächtigen Garten mit Granatapfel- und Quittenbäumen hinausging, vor sich die Blechkanne mit bitterem Kaffee auf einem kupfernen Kohlebecken. Mit der Hand, auf die eine blaue Ähre tätowiert war, drehte sie am Senderwahlknopf des Cambridge-Radios in seinem Holzgehäuse und wartete auf die Nachrichten. Dort würde man später berichten, dass ihr Ältester, Gesundheitsminister Doktor Yusuf Badran, es möglich gemacht habe, eine erste Ladung Polioimpfstoff nach Syrien zu holen, und die Menge würde ausreichen, um zehntausend Kinder in der Ostprovinz zu impfen. Es handelte sich um die Vakzine, die der amerikanische Wissenschaftler Jonas Salk im Jahre 1955 der Öffentlichkeit präsentiert und der Menschheit zur Verfügung gestellt hatte. In der gleichen Nachrichtensendung hörte meine Großmutter den ägyptischen Sprecher der arabischen Abteilung des BBC, Hassan Abu al-Ala, verkünden: »Amerika wird die Herrin der Welt sein und Europa die Sklavin zu ihren Füßen.« Von da an bestand meine Großmutter darauf, Suhail solle in Amerika, und nur in Amerika, studieren.
Suhail Badran, mein Vater, reiste mit den Füßen eines Elefanten, den Flügeln eines Adlers und dem Herzen eines Tigers nach Washington. Denn einerseits verfügte er über ein umfangreiches und altehrwürdiges Erbe sowie den starken Wunsch, erfolgreich zu sein und aufzusteigen, daneben jedoch auch über starke und glühende Leidenschaften. Meine Mutter, die heimlich sein Tagebuch gelesen hatte, sagte einmal: »Er ist ein wahrer Bulldozer an Liebe und Verlangen. Jedes Mal, wenn er einer Schönheit begegnet war, sagte er: ›Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden‹!«
Er schloss sein Studium mit zwei Magisterurkunden ab: eine von der Boston University im Fach Restaurierung antiker Städte und eine weitere von der University of California in Stadtplanung. Danach arbeitete er an den Tennessee Valley Projects im Süden des Landes und wurde Zeuge, wie die USA durch den Bau von etwa dreißig Staudämmen das Aussehen der Region nachhaltig veränderten und wie sich Amerika seiner Vorherrschaft in der Welt weiter näherte. Es entstand das größte Wasserkraftwerk der Welt mit einer Leistung von sechzig Millionen Megawatt jährlich. Der bedeutendste Wandel aber, und hier lag das eigentliche Interesse des Ingenieurs Suhail Badran, vollzog sich in den Randregionen rings um die Hauptprojekte, die durch gezielte Entwicklungsplanung neu belebt wurden. Sie boten Menschen einen Wohnort mit Häusern, Schulen, Kliniken, Parks, Klubs, touristischen Anlagen und Kulturzentren, was wiederum zusätzliches Kapital für die weitere Entwicklung anlockte. Ingenieur Suhail war nicht mehr der idealistische Zwanzigjährige, der davon träumte, Unmögliches möglich zu machen. Und in dem Augenblick, in dem meine Existenz ihre ersten Strahlen aussandte, wie er zu sagen pflegte, beziehungsweise im Moment einer historischen Fehlentscheidung, wie meine Schwester Salma beharrlich schimpfte, beschloss er, aus dieser stolzen Welt jenseits des Ozeans in seine Heimatstadt Raqqa – verloren zwischen Feldern und Wüste – zurückzukehren, die ihm jede Karrieremöglichkeit offenhielt. Mein Vater war überzeugt, dass die Geheimnisse immer in den besonders kleinen Dingen liegen, aus denen sich dann die großen ergeben. Eine vollkommene Form, wie der Kreis, sei tot, in ihr sei kein Platz für ein verstecktes Potenzial.
Damals hatte er gerade die Erinnerungen Ralph Waldo Emersons gelesen, des Mannes, der mit seiner unbezähmbaren Fantasie und seinen selbstentrückten Visionen das geistige Dokument des amerikanischen Traums verfasst hatte. Emerson war im 19. Jahrhundert nach Europa gereist, um die Herrlichkeit der Alten Welt zu erleben. Doch er musste feststellen, dass diese nun, nachdem sie intellektuelle, wissenschaftliche und philosophische Vollkommenheit erreicht hatte, im Sterben lag. Er erkannte die latente Kraft Amerikas, das bereit war in der Stunde null zu explodieren, und so kehrte er eilig dorthin zurück, um von der freien Welt zu berichten. Die USA waren für Suhail Badran auf dem Weg, ihr Versprechen zu erfüllen, während Syrien seinerseits die Stunde null erlebte, woran er große Hoffnungen knüpfte. Raqqa und die Städte des Euphrattals würden jetzt zu neuen Horizonten aufbrechen, wie vorher die Städte des Tennessee-Tals. Die in Syrien im Rahmen der Troika-Bewegung der 70er Jahre vorherrschende politische Atmosphäre stand im Zeichen des Kampfes gegen die Feudalfamilien – Familie Badran eingeschlossen. Sie wurden zwar von der Baath-Partei als reaktionär angesehen, doch Suhail glaubte, dass dies nicht den Bau von Häusern verhindern dürfte, und dass vor allem das Licht der Liebe nötig war, um den Randgruppen der Gesellschaft zu helfen.
*
Ingenieur Suhail stürzte sich in die Projekte am oberen und mittleren Euphrat. Etwa vierzig Kilometer westlich der Stadt al-Tabqa wurde der Euphrat-Staudamm gebaut. Dieser Traum sollte noch das entlegenste Dorf Syriens mit elektrischem Licht und allen seinen Vorzügen versorgen. Es sollte Schulen, Krankenhäuser, Parks, Open-Air-Kinos und Sportklubs geben, und in der syrischen Dschazira würde man tausende Hektar Brachland urbar machen. Suhail überwand alle Hindernisse: bürokratische Vorschriften, Protektionismus und auch die Baath-Funktionäre in den Behörden in Damaskus, die aus der Ferne operierten und die weder von den Einheimischen noch von den lokalen Gegebenheiten eine Vorstellung hatten, aber über Millionen von Dollar bestimmten. Entscheidend dabei war, dass Suhail die Gegend und die dort lebenden Menschen, bestens kannte. Er war mit den Böden und dem Wasser ebenso wie mit den Freuden und Sorgen der Bewohner vertraut. Zum großen Teil handelte es sich nämlich um Ländereien, die die Revolution dem Besitz meines Großvaters entzogen hatte.
Für die meisten Grundbesitzer kam die Verstaatlichung einem Todesstoß gleich. Ihre Ländereien wurden zerstückelt und dem Staat übergeben, der sie gemäß der Devise »Der Boden gehört dem, der ihn pflügt«, an die Bauern verteilte. Zu Hause überschüttete meine Tante Laila den Autor dieses Mottos mit Verwünschungen, weil er ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte. Erst habe er das Vermögen ihres Vaters eingezogen, sagte sie, um es dann an ein paar Bauern zu verteilen und sie mit ihr gleich zu stellen. Diese hatten ihr immer Butterschmalz und Honig fürs Frühstück gebracht und auf dem Balkon des Sommerhauses mitten in den Feldern am Euphrat serviert, bevor sie sie in ihrem Messingbett aufgeweckt und die Mückenschwärme verjagt hatten.
Im Jahr 1963 starb mein Großvater an der Verstaatlichung. Er erlitt einen Herzanfall, als er sah, wie seine Träume, Ideen und sein Schweiß ins Eigentum anderer übergingen, wobei man sich auf frühere Äußerungen Gamal Abd al-Nassers berief, der sich auf den Rücken von ein paar Hundert Grundbesitzern zum Ritter aufschwingen wollte. Das Revolutionsregime in Syrien folgte Nassers Beispiel: Von denen nehmen, die denken und arbeiten, um jenen zu geben, die sich, wie es Onkel Ibrahim der Landverwalter formulierte, in der Erntezeit über Frauen auf dem Feld herfielen und anschließend im Wasser des Flusses badeten.
Für die Ingenieure, Direktoren und selbst die Arbeiter in den Entwicklungsprojekten war Ingenieur Suhail ein Feudalherr, ein Verbündeter der kapitalistischen Kultur, da er in ihren bedeutendsten Zentren studiert hatte. Sie sahen höhere Bildung als Vergehen an, während ihrer Meinung nach nur die praktischen Erfahrungen aus den sozialistischen Staaten etwas taugten. Kaum jedoch hatten die 80er Jahre begonnen, standen sie im Rauda-Viertel von Damaskus vor einem kleinen Schalter in einem riesigen weißen Gebäude,