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und ließen ihren Vater allein im Haus zurück, der es daraufhin in eine Koranschule umwandelte. Nadjwan war so mutig, Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellten, zu überwinden, sie war gutherzig, fleißig und wissbegierig. Ihr Studium setzte sie bis zum Abschluss fort und ließ sich auch von ihrem Kopftuch nie davon abhalten, sich unter ihre Kommilitonen und Professoren zu mischen, zu reisen oder zu feiern. Genauso wenig stand ihre Vergangenheit ihrer Zukunft im Weg. »Als ich in meinen Erinnerungen keine Ordnung schaffen konnte«, sagte sie einmal zu mir, »habe ich es einfach seinlassen. Genau wie man es sich verkneift, ein schmutziges Zimmer aufzuräumen, wo Chaos herrscht und Reisekoffer herumliegen, sodass man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen soll. Da geht man dann lieber hinaus, schlägt die Tür hinter sich zu und verschwindet.«

      *

      Nasser führte mich zurück in lieb gewonnene Regionen meiner Erinnerung, die ich irgendwann verlassen hatte und von denen ich nie gedacht hätte, dass sie noch da waren. Er versetzte mich in eine Zeit zurück, in der mir die Zukunft nicht schnell genug kommen konnte. Jetzt, da sie da war, reiste ich zurück in die Vergangenheit, und Nasser gab den Anstoß dazu.

      Er musste einer der gutaussehenden jungen Männer in weißen Shorts und bunten Hemden gewesen sein, die in der Villa der al-Haffar gewohnt hatten. Dieses Haus, mit dem warmen Licht der Kristallleuchter an den hohen Decken hatte ich sehr gemocht. Ich liebte die Gemälde, die sich ordentlich an die Wand reihten, die von der Straße aus sichtbar war. Was ich jedoch am meisten liebte, war der große Chinarindenbaum, dessen Zweige sich bis zu den Fenstern im zweiten Stock reckten, um die Hausbewohner vor den Augen der Neugierigen zu verbergen. An brütend heißen Julitagen, wenn ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch den Souk von Azizieh oder von den Hügeln heimkehrte, kaufte ich mir bei Kan ya ma kan ein Glas Tamarindensaft und genoss seinen süßsauren Geschmack im Schatten unter diesem Baum.

      Frau Schahira war in Damaskus aufgewachsen, hatte an der Philosophischen Fakultät Arabisch studiert und Herrn Adham al-Amiri geheiratet, den Sohn eines Freundes der Familie, der im Palästina unter dem britischen Mandat ein bedeutender Ökonom gewesen war. Aus Haifa waren sie später nach Amman gezogen. Er war an der Gründung der Arabischen Bank beteiligt gewesen und hatte ihre wirtschaftliche Strategie mitentworfen. Nassers Vater Adham hatte nach seinem Studienabschluss an der École Polytechnique in Paris die Arbeit seines Vaters im Kollektiv der Bank fortgesetzt. Dann starb er mit Mitte fünfzig an einem Herzinfarkt. Nach seinem Tod kam Schahira oft nach Aleppo, denn sie hatte ihren Geschwistern deren Anteile an der Villa ihres Vaters abgekauft. Und wenn Nassers Schule, das Islamic Educational College in Amman, Ferien hatte, begleitete er sie.

      Zum letzten Mal hatte er Aleppo vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen von 1982 zwischen der Baath-Regierung und den Muslimbrüdern besucht, die Aleppo, die Hochburg der Sunniten, als ihre Heimstätte ansah. Danach war Nasser nach Amerika aufgebrochen. Seine Mutter war ihm gefolgt, kehrte nach seiner Heirat aber zurück, um den Rest ihres Lebens in Amman zu verbringen.

      Stundenlang unterhielten wir uns und beschworen den Geist der Vergangenheit herauf, den Duft nach Jasmin, Geißblatt, Jujuben und die von Küchendünsten aus den alten Häusern um den Bagdad-Bahnhof geschwängerte Luft. Gemeinsame Erinnerungen müssen nicht zwangsläufig gemeinsame Gefühle bedeuten, doch Nasser teilte einen sehr wichtigen Schatz mit mir: Aleppo, meine halbe Erinnerung, die zweite Hälfte meiner Identität.

      Der Mädchenpalast

      Am Morgen des 28. August 1963 strömten die Menschen in der amerikanischen Hauptstadt scharenweise auf die National Mall und versammelten sich vor dem Lincoln Memorial. Diese Vorkämpfer für die Bürgerrechte waren gekommen, um dem gutaussehenden jungen Schwarzen zu lauschen, dessen Augen die Leiden der Propheten widerspiegelten. Es handelte sich um Martin Luther King. In schwarzem Smoking und schneeweißem Hemd hielt er eine Rede vor 250000 Männern, Frauen und Kindern, um mit seiner mitreißenden Rhetorik die Geschichte des mächtigsten Staates der modernen Welt auf neue Bahnen zu führen:

      Ich habe einen Traum, dass sich diese Nation eines Tages erheben wird

      und der wahren Bedeutung ihres Credos gemäß leben wird:

      »Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich:

      dass alle Menschen gleich erschaffen sind.»

      Drei Mikrofone reichten an jenem strahlenden Morgen aus, um alle Welt für viele Jahre mit einem Mut bekannt zu machen, der eng mit einer Utopie verbunden war. Die Sykomoren und Kirschbäume warfen ein Echo der Rede zurück, und man sah ihre Wirkung an den Tränen der Männer und Frauen, die in den Teich gegenüber der Kongresskuppel flossen:

      Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia

      die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter

      miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

      Mitten im Gedränge stand ein junger braunhäutiger Syrer mit schwarzem Haar und großen, lebhaften schwarzen Augen. Seinen sportlichen Körper aufgerichtet und angespannt, hörte er voller Begeisterung und in dem Bewusstsein zu, einen historischen Augenblick zu erleben. Es handelte sich um Suhail Badran, der später mein Vater wurde, einen Studenten der Universität Boston, die auch Martin Luther King besucht hatte. Nachdem er sein Vorbereitungsjahr mit Bravour beendet hatte, hatte er sich gerade für das erste Semester seines Architekturstudiums eingeschrieben.

      Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht

      und jeder Hügel und Berg niedriger werden.

      Die unebenen Plätze werden flach

      und die gewundenen Plätze gerade,

      und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

      und alles Fleisch miteinander wird es sehen.

      Mein Großvater väterlicherseits war ein Großgrundbesitzer im Euphrattal gewesen. Auf seinen weitläufigen Ländereien arbeiteten Dutzende von Bauern, die mit ihren Familien im Umkreis wohnten. Mit der Zeit dehnte er den Verkauf seiner reichen Ernten aus auf den Handel mit Landwirtschaftsbedarf wie Sämereien, Werkzeugen und Geräten, und Gottes Land gedieh in seinen Händen. Obwohl ein Feudalherr, hatte mein Großvater mit den Fürsten im zaristischen Russland oder den südamerikanischen Sklavenhaltern nichts gemein, nicht einmal mit den Grundherren in Aleppo oder Latakia, die ihre Bauern auspeitschten, sie für nicht mehr als ihr tägliches Brot und ihre Unterkunft schuften ließen, ihre Töchter entjungferten und sie in Schulden trieben, um sich ihrer Ländereien bemächtigen zu können.

      Al-Hadsch Ali Badran war ein Lehnsherr nach lokalem Brauch, nicht nach der sozialistischen Theorie. Er hatte das Land auch nicht von seinen Vorfahren geerbt, denn sie waren Lehrer und Richter für die verschiedenen Stämme der Region gewesen. Er selbst hatte unter dem osmanischen Staat als Dolmetscher für Persisch und Türkisch gearbeitet und auf diese Weise Geld angespart, mit dem er, wie viele andere, mehrere Grundstücke am Euphrat kaufte. Land war dort damals leicht erhältlich, denn es lebten wenige Menschen auf den verfügbaren Flächen und ihnen war nicht klar, wozu sie einen Besitz jenseits der eigenen Grundbedürfnisse nutzen könnten.

      Der Grundstock für das Familienvermögen war von der Seite meiner Großmutter gekommen, die Ländereien und Gold-Lira ihres Vaters geerbt hatte und ihren Mann drängte, etwas daraus zu machen. Er wiederum brachte ein risikofreudiges Wesen mit, das ihn bei den ersten erfolgreichen Abenteuern mit ihrem Geld unterstützte.

      Zwischen 1915 und 1965 stürzte sich al-Hadsch Ali auf zahlreiche weitgreifende Neuerungen. Er baute die erste Getreidemühle der Gegend, um den Bedarf der Bevölkerung an Mehl und Grütze zu decken, und wandelte sie später in eine industrielle Mühle um. Als sich immer mehr Menschen in Raqqa und Umgebung niederließen, baute er einen Töpferofen zum Brennen von Tonwaren, und später für Ziegel zum Bauen.

      Zu jener Zeit wurden in der Folge zweier Weltkriege die Landkarten ständig neu gezeichnet, und Syrien lag genau im Auge des Sturms. Das führte dazu, dass man sich zunächst gegen die Osmanen auflehnte und für Unabhängigkeit eintrat, und anschließend auch die französischen Kolonialherren bekämpfte. Die meisten Landkartengestalter entstammten feudalen Familien und bildeten die