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Wie ich nicht anders erwartet hatte, rief Nasser an, nachdem sein Schmerz über den Verlust abgeklungen war. Er fühlte sich einsam nach dem süßen Trost, als er die Geduld kennenlernen musste, die mit der Trauer einhergeht. Er rief an, weil er inzwischen einer anderen Form der Aufmunterung bedurfte, die mir wohlbekannt war. Er brauchte jetzt jemanden zum Reden. Also trafen wir uns am Abend im Restaurant Blue Fig im Stadtteil Abdoun. Hier in Amman kannte ich bisher wenige Lokale und fühlte mich unbeholfen. In Aleppo hätte ich mein Stammlokal gehabt, das Baron Hotel, wo ich früher regelmäßig saß, wo immer ein Tisch für mich reserviert war, wo alle Angestellten mich und meine Vorlieben kannten, wo, wenn ich mich mit Freunden treffen wollte, meinen Gästen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und wo man mich in Ruhe ließ, wenn ich schreiben wollte.
Weder die Restaurants im Ritz noch die Cafés an den Champs-Elysées oder die Prager Straßencafés waren mit der Terrasse des Baron Hotel vergleichbar. Damals war das Hotel ein kleines Gebäude im Herzen Aleppos, in einer Straße, die seit 1946 nach ihm »Baron-Straße« heißt, und zwar in Anerkennung der patriotischen Rolle, die das Hotel während der französischen Mandatszeit gespielt hatte. Da war die Straße allerdings noch nach Henri Gouraud benannt, jenem französischen General, der bei seinem Einzug in Damaskus nach der Schlacht von Maysalun mit dem Fuß gegen Saladins Grabmal getreten hatte und dabei seine berühmt gewordenen Worte sprach: »Wach auf, Saladin! Wir sind wieder da!« Das Gebäude des Baron Hotel stammte aus dem Jahr 1906. Ursprünglich besaß es einunddreißig Zimmer und zwei Bäder. Später setzten die Brüder Mazloumian noch ein drittes Stockwerk mit siebzehn Räumen auf, die alle über ein eigenes Bad verfügten.
Östlich davon lag das Viertel Azizieh, der Zufluchtsort des vor allem christlichen Großbürgertums, wo sich auf den Gehsteigen die Caféterrassen eleganter Restaurants breitmachten: das Wanis, das Schallal oder das Cordoba. Davor erstreckten sich Beete mit grünen Sträuchern und Blumen, die man im ehemaligen Flussbett des Quwaiq angelegt hatte, das wegen der vielen Insekten, die Krankheiten wie die Leishmaniose verbreiten konnten, zugeschüttet worden war. In diesen Restaurants trafen sich Künstler, Schriftsteller, Geschäftsleute und hohe Beamte. Sie verbrachten ihre Abende bei der Musik namenloser armenischer Bands, die das Talent besaßen, nostalgische Erinnerungen an die Vierziger- und Fünfzigerjahre heraufzubeschwören, als man in Aleppo noch zu bekannten Tango- und Walzermelodien tanzte …
Südlich des Baron Hotel, direkt am Stadttor Bab al-Faradsch, stand der Uhrturm, eines der Wahrzeichen Aleppos. Es heißt, Aleppo ließe sich nur durch das Bab al-Faradsch entdecken, und dies, obwohl es noch sechs weitere Stadttore gab. Gleich bei dem Uhrturm befand sich die Nationalbibliothek, Ziel aller Freunde des Lesens und Forschens, des Theaters und der Künste. Zwischen dem Hotel und dem Platz vor dem Bab al-Faradsch verliefen enge parallele Sträßchen. Diese Gegend heißt »Bustan Kull Ab« oder, im lokalen Dialekt, »Bustan Kleb«. Dort fand man Ersatzteilläden für Autos und landwirtschaftliche Maschinen in direkter Nachbarschaft zu den billigen Hotels – wo sich mehrere Zimmer immer ein Bad teilten. Sie trugen Namen wie Suez Canal, Unity, das Syrien und das Libanon. Außerdem gab es Restaurants, wo man armenischen Kebab und »Königsgratin« zubereitete, sowie Nachtclubs. Vor den berühmtesten wie dem Moulin Rouge und dem Crazy Horse flanierten sowohl Frauen mit Kopftuch oder Gesichtsschleier als auch Stewardessen aller Fluggesellschaften, im Innern jedoch wimmelte es vor ausländischen Prostituierten, darunter manche auch aus Aleppo.
Wenn man auf der Hotelterrasse des Baron saß, hatte man auf der anderen Straßenseite die Zweigstelle der »Arab Writers Union« vor sich, ein Altbau, in dem Lesungen und Literaturabende veranstaltet wurden. Sie erlösten uns oft von der Monotonie des Alltags an der Akademie. In der benachbarten Straße lag das Al-Kindi-Cinema, an dessen Türen aufreizende Plakate von alten Schundfilmen klebten. Wie angewurzelt standen die Jugendlichen davor, kauten ihre Falafelsandwiches und starrten auf die verlockenden Bilder nackter Frauen. Meistens zogen sie bald weiter, an den alten dicht gedrängten Häusern vorbei zu den Kleider- und Schuhgeschäften, die sich in der Quwwatlistraße aneinanderreihten, wo sich Auslagen syrischer oder billiger chinesischer Qualität aneinanderreihten. Dem Kino fehlte es allerdings nie an Besuchern, egal, welcher Film gerade gezeigt wurde. Oft sah man dort Teenager, vielleicht auch Studenten, die keine andere Möglichkeit fanden, sich alleine zu treffen, und nur in den Saal gingen, um sich in die hinteren Reihen zu setzen, zu knutschen oder in aller Eile Sex zu haben. Der Platzanweiser ließ die jungen Leute rasch in der Dunkelheit zurück, während der Film, der schon Zeuge unzähliger solcher Zusammentreffen geworden war, kaum mehr als eine Nebenrolle spielte. Keiner von ihnen verschwendete einen Gedanken, warum das Kino »al-Kindi« oder die Straße »Quwwatli« hießen, vom täglichen Gebrauch abgenutzte Namen großer Philosophen und Übersetzer, die so gut wie jedes syrische Stadtbild prägen.
An den Sommerabenden saßen wir oft auf der großen Terrasse vor dem Baron Hotel. Von der Straße trat man ein paar Stufen hinauf, die aus dem gleichen Stein gehauen waren, den man für die niedrige Brüstung verwendet hatte … über dem Haupteingang stand in dünner, elegant geschwungener blauer Neonschrift der Name des Hotels. Im Winter zogen wir in die Lobby um, einer Mischung aus Lounge und Bar, und debattierten vor dem Marmorkamin, der in seiner Pracht mit dem schwarz-weißen Schachbrettmuster der Fliesen korrespondierte, über Kultur und Politik. Nie war ich zu den Hotelzimmern hinaufgegangen, in denen oft Prominente genächtigt hatten – heute sind die Zimmer nach ihnen benannt. Ich hatte stets das Gefühl, Agatha Christie könne herunterkommen und mir gegenüber Platz nehmen, Gamal Abd al-Nasser könne sich im nächsten Moment auf den breiten Balkon stellen, um den Massen zuzuwinken, oder aber türkische, englische und französische Militärführer könnten am langen Tisch hinter uns ihre Verschwörungen aushecken, die man bis heute in den Archiven der beiden Weltkriege verwahrt. Meine Freunde und ich strickten derweil an unseren eigenen Verschwörungen und persönlichen Mythen, inspiriert von der Energie dieses Ortes, der wie eine tiefe Höhle wirkte und so zahlreiche Gesichter zusammengeführt hatte. Die Wände hatten das Echo ihrer Geheimnisse aufgesogen, ebenso wie den Glanz in den Augen der Paare aus früheren Zeiten, ihr Lachen, ihre unvollendet gebliebenen Liebespläne und ihre aufrichtig vergossenen Tränen, die zu jener lebhaften Vergangenheit Aleppos gehörten.
Im Winter 2000 hatte ich in eben dieser Bar Sami getroffen. Er saß bei einer trinkenden und laut lachenden Gruppe russischer Männer und Frauen. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, ausgerechnet hier einen jungen Mann aus meiner Heimatstadt Raqqa zu treffen! Ich kannte Sami vom Sehen, wir hatten dieselbe Schule besucht, ich kam in die siebte, als er in die zehnte ging, und sein Bruder war in meiner Klasse. Ich saß gerade mit Nadjwan, meiner Freundin aus den Universitätsjahren, beim Abendessen, als Sami selbstbewusst auf mich zukam, mir die Hand gab und sich vorstellte. Ich pflegte damals keinen engen Kontakt zu den Leuten aus meiner Stadt, die zum Studium nach Aleppo gekommen waren. Sie gingen zwar sehr schnell offen miteinander um und unterstützten einander, aber sie mischten sich auch in Privatangelegenheiten ein und bespitzelten sich gegenseitig, obwohl jeder dem anderen weismachen wollte, was in Aleppo geschehe, werde auch in Aleppo bleiben. Dabei machten sich die Geheimnisse meist augenblicklich auf in Richtung Osten und hatten die zweistündige Distanz bis Raqqa schon überwunden, ehe die Betroffenen am Wochenende dort eintrafen.
Doch mir gefielen Samis Selbstvertrauen und auch seine Spontaneität. Er kenne mich noch aus der Schule, sagte er. Den ganzen Abend lächelten wir uns immer wieder zu, bis er das Hotel zusammen mit seinen Freunden verließ.
Sami hatte in Moskau Software Engineering studiert und arbeitete seit seiner Rückkehr im Wärmekraftwerk zwischen Aleppo und Raqqa. Bei unserer Begegnung damals war mir gerade ziemlich kalt. Er dagegen trug eine mehr als hüftlange Jacke aus teurem schwarzem Leder, mit breitem Gürtel und einem mit grauem Pelz besetzten Kragen. Am liebsten hätte ich mein kaltes Gesicht tief darin vergraben. Samis Kopf war groß und rechteckig, er hatte weizengelbe Haut und große Augen, die durch die schlaffen Lider müde wirkten. Sein hervorstechendstes Merkmal jedoch war seine große breite Nase. »Eine große Nase ist ein Zeichen von Lebenskraft!«, pflegte meine