Unser Haus dem Himmel so nah. Shahla Ujayli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Shahla Ujayli
Издательство: Bookwire
Серия: Alawi Bibliothek
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783966750257
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Vermittlungen oder Bestechungen zum Aufschub des Militärdienstes griffen zu jener Zeit nicht mehr, weil überall in Syrien Unruhen aufflammten, von Deraa aus hatten sie auf Homs und Deir al-Zor übergegriffen. Man rekrutierte alle, die ihren Dienst noch nicht geleistet hatten, und ließ selbst diejenigen Soldaten nicht gehen, deren Entlassung eigentlich anstand.

      Sami wurde in einem Kraftwerk im Umland von Homs gemustert und kam in einer bewaffneten Konfrontation zwischen Regimetruppen und der Freien Syrischen Armee ums Leben. Tariq dagegen war während seiner Studienjahre ein hochrangiges Mitglied der Parteisektion seiner Fakultät gewesen und hatte sie meist bei offiziellen Anlässen vertreten. Nach seinem Abschluss richtete er seine Ambitionen auf die Kommunalabteilung in Raqqa. Er hatte den Ehrgeiz, in die Führung aufzusteigen und Sekretär der Geschäftsstelle des Gouvernements zu werden. Dies sei doch das Glück, nach dem auf dem Lande jeder strebe, pflegte er zu sagen.

      Später reiste er viel, um an Fortbildungen über Entwicklung, Medien oder Menschenrechte teilzunehmen, und scheinbar war er zu Geld gekommen. Als dann jedoch die Revolution gegen das Regime ausgerufen wurde und das Fieber der Demonstrationen und Sezessionen um sich griff, trat Tariq in Istanbul als offizieller Sprecher der revolutionären Koalition vor die Kamera des Satellitensenders »Al Jazeera«. Er kritisierte die Diktatur des Regimes, erklärte den Zusammenbruch der Partei und verkündete den Sieg der Revolution.

      Bagdad-Bahnhof al-Notoraki

      Ich machte mich absichtlich nicht besonders zurecht, sondern begnügte mich mit einer beigen Baumwollhose, einer weißen Leinenbluse und einer kurzen Kette aus pastellfarbenen Majorica-Perlen, als träfe ich eine gute Freundin zum Abendessen.

      Stattdessen traf ich mich mit Nasser, er wirkte diesmal respekteinflößend, wie ein wirklicher Doktor, nicht mehr wie der verstörte, trauernde Reisebegleiter. Er trug eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett zu einem weißen Hemd und hatte sein Haar mit Frisiercreme nach hinten gekämmt. Dadurch kam seine breite Stirn zur Geltung und ich musste unwillkürlich an meinen Großvater mütterlicherseits denken.

      Äußerlich waren Nasser und ich vollkommen aufeinander abgestimmt: einfach, elegant und authentisch gekleidet entsprachen wir der zeitgenössischen bürgerlichen Ästhetik. Wir machten es uns auf den Ledersofas des Blue Fig bequem und genossen den Blick auf die Villen vor den Fenstern. Nicht weit im Norden flatterte die syrische Fahne an der Botschaft selbstbewusst im Wind und versuchte den Eindruck zu erwecken, die Geschehnisse dort im Land seien nichts weiter als ein böser Traum.

      Warum mich Nasser an meinen Großvater erinnerte, weiß ich nicht, vielleicht wegen der Brylcreem in seinen Haaren. Denn mir war die rote Dose wieder eingefallen, die selbst Jahre nach dem Tod meines Opas noch an ihrem Platz, auf dem Toilettentisch des italienischen Schlafzimmers mit dem kostbaren venezianischen Gobelin an der Wand stand. Die Fenster dieses Zimmers gingen auf zwei Straßen des Viertels Bagdad-Bahnhof al-Notoraki hinaus – was dieses angehängte al-Notoraki im Namen bedeuten soll, ist mir allerdings bis heute schleierhaft geblieben. Die Fenster erzählen Geschichten von Liebe, Kunst, Reise und Erfolg, die durch die Geräusche der einlaufenden Züge aus Istanbul, Latakia, Qamischli, Budapest angeregt werden, Züge, die immer wieder losrattern – in Richtung Leben.

      In den 1950er Jahren war das Viertel um den Bagdad-Bahnhof eine der schönsten Gegenden Aleppos. Es bestand aus drei breiten Parallelstraßen, die durch eine Querstraße vom öffentlichen Park getrennt wurden. In der Mitte dieses 17 Hektar großen Parks befand sich ein Standbild Abu Firas al-Hamdanis, dem berühmten Poeten aus dem 10. Jahrhundert. Es gab mehrere Springbrunnen und grüne Holzbänke im Schatten der Weiden, Zypressen und Ulmen, dazu Damaszener Rosen und wilde Rosen in Rot, Gelb und Violett. Weiß und blau wuchs der Jasmin über die Mauer, und an den geschmiedeten Kletterhilfen für das wuchernde Grün rankten duftende Pflanzen empor. Ein Bereich war für den Kinderspielplatz reserviert, in einem anderen dagegen war jeglicher Lärm streng verboten. Dort standen Gehege für die Pfauen, die hin und wieder für die Beobachter ihr Rad schlugen, es aber oft auch aus Koketterie unterließen. Schwäne glitten über ihren Teich, ohne das Blau, auf dem sie morgens wie abends ruhten, auch nur wahrzunehmen. Die Statuen, die sich rings um sie erhoben und einem mit der Zeit wie alte Bekannte vorkamen, waren von visionären syrischen Bildhauern wie Jacques Warda und Wahid Istanbuli geschaffen worden.

      Hohe Weiden säumten die Straßen des Viertels um den Bahnhof, wo keines der Häuser mehr als 20 Meter hoch war. Ihre Zweige reckten sich durch die geöffneten Fenster, spähten die Bewohner aus, bespitzelten sie in ihren Schlafzimmern und umkränzten die Kaffeetassen morgens und abends. Hier wohnten christliche, muslimische und armenische Familien des Großbürgertums von Aleppo: die Dallas, Saqqals, Kayyalis, Martinis, Sabbaghs, Mudarres’, Aqqads, Traboulsis, Attars, Antakis, Mukarbanas, Hallaqs, Hamawis, Marjanas, Quanaas’, Sakissians, Izmirians, Sawahims. Ein wenig weiter östlich lagen die einfacheren und dichter besiedelten Viertel, Sheikh Taha, Siryian, Ashrafieh und Sheikh Maqsoud, wo Kleinbürger und Proletarier lebten. Dort in Sheikh Maqsoud wohnten die aus Dörfern wie Afrin und Azaz eingewanderten Kurden sowie Armenier und Turkmenen und Araber aus dem ländlichen Osten.

      Die Wohnung meines Großvaters lag im ersten Stock mit Fenstern zur Straße, aber ohne Balkon. In den damaligen Altbauten war das erst ab dem zweiten Stock vorgesehen. Im Sommer schliefen wir bei geöffnetem Fenster und ließen uns von den nach Schönheit, Freude und Leben duftenden Abendwinden Aleppos streicheln. Die Schritte der wenigen Passanten lullten mich ein, und ihre Gespräche drangen murmelnd in meinen Halbschlaf herauf, sodass ihre Geschichten sich manchmal in meinen langen Träumen fortsetzten. Soweit ich mich erinnere, lernte ich das erste Sprichwort in meinem Leben von einer alten Frau, die unten am Fenster vorbeiging. »Kinder erwidern die Selbstlosigkeit einer Mutter mit Herzlosigkeit«, sagte sie unter Tränen, und ihre Geschichte drang in meinen Traum ein.

      Unsere Fenster zeigten Richtung Westen, zum Haus des Eisenbahndirektors neben dem Bahnhof. Dieser große einstöckige Bau stand in einem schönen Garten mit einem kleinen Teich, Aprikosen-, Pfirsich- und Mandelbäumen und vielen roten und gelben Damaszenerrosen. Hinter der grauen Steinmauer erhob sich eine zweite Wand aus Pinien, und rechts vom Haupteingang befand sich ein hölzernes Häuschen für den wachhabenden Soldaten, der sein Maschinengewehr nie von der Schulter nahm.

      Basil, der Sohn des Eisenbahndirektors, studierte Bauingenieurwesen und war in meine Tante Dalia verliebt, die an der Philosophischen Fakultät für Englische Literatur eingeschrieben war. Jeden Morgen folgte er ihr in dem Dienstmercedes, den sein Vater ihm eigens für seine Spazierfahrten zur Verfügung stellte, bis zur Haltestelle vor dem Öffentlichen Park, wo sie in den Bus zur Universität stieg. Als ihr dann der Winterregen von Tag zu Tag unerträglicher wurde, nahm sie schließlich das Angebot an. Basil wartete an der Bushaltestelle auf sie, fuhr sie zu ihrer Fakultät und holte sie später wieder ab.

      Eines Abends kam Dalias Bruder aufgeregt nach Hause, denn man hatte in Aleppo fast alle Straßen gesperrt und Tante Dalia war noch nicht wieder zu Hause. Auf der Suche nach ihr war mein Onkel zur Universität gelaufen und kam nun verzweifelt ohne sie zurück. Wenige Tage zuvor hatten Muslimbrüder die Philosophische Fakultät gestürmt und waren mit Unterstützung ihrer studentischen Kräfte in die Hörsäle eingedrungen. Nur unter Schwierigkeiten hatte er nach Hause zurückkommen können, weil die Straßen voller Menschen waren, die um den Innenminister Adnan Dabbagh trauerten, der unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war.

      Der feierliche Trauerzug marschierte auch am Öffentlichen Park vorbei, und alle im Haus rannten zum Wohnzimmerfenster, um zu sehen, wie die Massen in einiger Entfernung auf der Hauptstraße zusammenliefen, um das Spektakel um den Sarg zu erleben, der auf Schultern getragen wurde. Dieser Innenminister hatte heimlich die Sängerin Mayada al-Hannawi geheiratet. Sie erbte nun ein gewaltiges Vermögen von ihm, was zu endlosen Schwierigkeiten mit seiner Familie führte; es gab Gerüchte über einen Mordversuch mittels eines Amokschützen.

      Mayada al-Hannawi war nicht nur die Sängerin ihrer Generation, sondern eine echte »Diva«, wie man inspirierende Frauen nennt. Der geistreiche, aus Salamiyeh stammende Dichter Ahmad al-Dschundi scherzte: »Ich küsse den Fernseher, wann immer Mayada al-Hannawi zu sehen ist.« Und der Nachbarssohn Ayham, ein Junge in der ersten Primarschulklasse, versetzte seinen Vater mit einem Riesenaufstand in Wut, damit dieser ihn zur Strafe zu Fuß