Der leise Ruf des Schmetterlings. Hardy Krüger jr.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hardy Krüger jr.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906872711
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Sie war so unglaublich schön, dass er sich jeden Moment neu in sie verlieben konnte. Nicht nur die äußere, nein, es war auch die innere Schönheit, die es wohl kein zweites Mal auf dieser Welt gab. Es war Halt und Fallen zugleich. Sie waren auch heute noch bestimmt füreinander, doch die Unruhe der Unstetigkeit und die Ungeduld, die dem ein Ende gesetzt hatte, waren sehr schmerzhaft. Er konnte sie jedoch noch spüren. Ein Spiel zwischen Wagen, Hoffen, Aufgeben und Angst. Unerheblich, aber doch präsent und real. Leider. Wo mag sie wohl gerade sein und wie fühlt sie sich in den Armen eines anderen Mannes? Selbst wenn sie mit einem anderen Mann zusammen war, wusste er, dass er derjenige war, der ihre Einzigartigkeit spüren konnte. ›Jedes noch so kleine Gefühl und jede noch so kleine Hoffnung ist in mir‹, sagte sich David.

      Er hasste sich dafür, keine Kraft gehabt zu haben, zu ihr zu rennen und sie in den Arm zu nehmen. Auch jetzt noch hielt ihn etwas zurück, das er sich nicht erklären konnte. Vielleicht war sie noch nicht so weit und würde aus dieser so zarten Liebe eine zerstörerische Wut entwickeln. War das der Grund für diese Konsequenz oder lag es an seinem Zögern? Er wusste es nicht. Sie hinterließ ihm Sätze auf seinem Telefon, die David vor Schmerz in die Knie zwangen, nach vielen Worten der Glückseligkeit. Wie wahr und schön, dass alles zu passen schien. Wir beide sind noch nicht so weit, obwohl wir schon da sind, wo keiner sein kann, denn diese Liebe ist füreinander bestimmt! Das fühlte David ganz tief in seinem Innersten. Das Leben wäre um einiges schöner mit ihr und ein verlorenes, ohne ihr je begegnet zu sein.

      Er war hier in Rom, um das alles hinter sich zu lassen und seinem Leben eine neue Chance zu geben. Die Einfachheit und das Wesentliche ist das Einzige, was im Leben wirklich zählt. Das Gefühlte »Ich habe alles, was ich brauche, in mir im Herzen und in meiner Seele« ist das Ziel. Keine Abhängigkeit mehr in Davids Leben, von nichts und niemandem. Aber bis dorthin war es noch ein langer Weg, das wusste er.

      Es gab Tage in Davids Leben, da regnete es Nägel vom Himmel. Vergeblich hatte er versucht, seine Wunden zu lecken. Doch seine Wunden waren so groß, dass nur die Liebe sie heilen könnte. Deswegen war er nach Rom gekommen. Hier, wo er schon einmal glücklich war. Hier wollte er ein neues Leben mit Menschen leben, die ihm guttaten. Wie viele unzählige Stunden hatte er schon mit Menschen verbracht, die keine wirklichen Freunde waren. Die alles von ihm nahmen. Seine Energie, sein Geld, sein Vertrauen. Menschen, die ihn schwach gemacht hatten. ›Ich bin ihnen nicht böse‹, dachte David. ›Man kann ihnen eigentlich wirklich nicht böse sein, denn sie suchten nur Halt und Bestätigung. Und für einen Moment gibst du ihnen das auch. Menschen, die nie glücklich oder zufrieden sein werden. Die Gier nach mehr hat sie im Griff.‹

      Vielleicht war ihm auch nicht bewusst, dass unmerklich das Geheimnis der Dualität des Universums ihn hierhergeschickt hatte. Denn Rom, Ewige Stadt, hatte seinen Namen einem Dichter zu verdanken. Eine ziemlich tragische Geschichte. Sein Name war Tibull. Man weiß nicht viel über ihn, denn die Schriften, die man über diesen Mann, der aus einer alten und sehr wohlhabenden Ritterfamilie stammte, sind zufällig auf mysteriöse Weise verloren gegangen. Eines dieser kleinen Geheimnisse Roms. Was man aber weiß, ist, das Tibull um 18/19 vor Christus noch sehr jung gestorben sein muss. Es gab noch einen Nachruf des Dichters Domitius Marsus. Tibull sehnte sich nach einem ruhigen und friedlichen Leben mit seiner geliebten Delia.

      Im Jahr 31 vor Christus muss es wohl gewesen sein, als sein Freund Markus Valerius Messallas Tibull aufforderte, ihn in den Feldzug nach Aquitanien zu begleiten. Zunächst lehnte er ab, aber dann folgte er seinem besten Freund. Tibull wurde auf der Reise krank. Sie ließen ihn auf der Insel Korfu zurück. Enttäuscht schaffte er es bis nach Hause zurück. Doch dann erwartete ihn ein ganz anderes Leben als das, was er sich erträumt hatte. Seine geliebte Delia hatte sich für einen Mann entschieden, der noch viel reicher war als er. Dieser Traum blieb ein Traum und was dann passierte, war noch schlimmer. Man vermutete, dass Tibull nach dem römischen Bürgerkrieg enteignet worden war. Das Letzte, was man von ihm hörte, war, dass er als armer Mann den Trost im Alkohol suchte. Mehr weiß man nicht über Tibull. Dieser Mann gab dieser Stadt ihren Ehrennamen – Rom, die Ewige Stadt!

      Das sind Wunden, die kaum zu heilen sind. Davids Leben war vergleichbar mit dem Leben Tibulls, erklärbar mit der Synchronisation des Universums, die zeigte, dass wir alle miteinander verbunden sind. Nicht nur im Hier und Jetzt. Nein, auch in anderen Dimensionen, zur selben Zeit. Deswegen sollte man jeden, dem man begegnet, gut behandeln, denn jeder ist ein Teil von dir. Wer weiß, wenn du ihn wiedertriffst, was er dir dann bedeuten wird? David konnte den Baum der Verbundenheit sehen, als sein Herz aufhörte zu schlagen. Die Energie, das Licht war geflossen und hatte sich verändert. Das Universum schaffte neues Leben und nahm wieder welches. Wie eine Welle. Doch nichts verschwand für immer.

      So wie das Lied, das der Junge auf seiner Gitarre im Hof der Entzugsanstalt spielte. Es war der einzige Moment, in dem die Stimmen und die Schreie nicht mehr zu hören waren. Ja, es war eine Zeit, die er nie vergessen würde. Bilder, die sich in seinen Kopf eingebrannt hatten. Bilder von körperlichem und seelischem Schmerz, von Ängsten und dem Gefühl, versagt zu haben. David wollte alles richtig machen und konnte diesen Schmerz nur betäuben, um durchzuhalten. Weitermachen, weitermachen und bloß nicht aufgeben. So lange, bis sein Körper nicht mehr wollte. Alles auf eine Karte. Männer weinen nicht, hatte er von seinem Vater gelernt. Ein Mann war stark und zeigte Rückgrat. Sein Vater lebte ihm eine Welt vor, die es nicht gab. Sicher, weil er keine Gefühle zeigen konnte. Wie gern würde er jetzt mit ihm sprechen. Jetzt, wo sein Leben neu begann. Diesen Wunsch trug er schon sein ganzes Leben mit sich herum. Vielleicht würde es eines Tages so weit sein, dass sein Vater dazu bereit wäre. David wusste es nicht. Doch die Zeit wartete nicht darauf und er hatte es schon aufgegeben, hatte kapituliert, ein wartender Sohn zu sein, der immer wieder abgewiesen wurde.

      David würde das Lied immer im Gedächtnis bleiben. Es blieb für immer, so schön, so melancholisch. Es handelte von Einsamkeit und Liebe, von Vertrauen und von Schreien, die man nicht hört. Tränen waren ihm heruntergelaufen, als er dem einsamen Sänger von seinem kleinen Fenster aus zusah. Er saß da, ganz allein, mit einer Zigarette im Mund und sang dieses Lied. Immer das gleiche Lied, jeden Tag zur selben Stunde. Unverbesserlich.

      Nachts waren dann wieder die körperlichen Schmerzen gekommen und der Körper krümmte sich wie unter Strom. Er konnte seine Hände nicht kontrollieren und sein Kopf schien zu explodieren. Es waren die Momente, wo er aufgeben und sein Leben beenden wollte. Die Schmerzen waren unerträglich, aber einer von ihnen da draußen vor den Mauern wollte er auch nicht mehr sein. Mit leeren Mägen und starren Blicken. Die Hände in den Taschen, weil das Zittern nicht aufhören wollte. Der Gedanke, der nur noch an der Flasche klebt, wie das Etikett. Arme, verlorene Seelen, die wir alle vergessen haben – sie sind unter uns. Viele Menschen, denen keiner helfen will. Unter all diesen schönen und glücklichen Menschen, die keine Sorgen haben und schnelle Autos fahren, die in großen und warmen Häusern wohnen. Die sich selbst nicht eingestehen wollen, dass sie vielleicht auch einer von uns sind. Von uns vergessenen Alkoholikern. Der Alkohol ist der Teufel. Er ist immer da, wenn es dir schlecht geht, und verspricht dir, dass alles gut wird, wenn du bei ihm bleibst. Für einen Moment hält er sein Versprechen. Doch er nimmt sich dabei deine Seele, ohne dass du es merkst. Wenn er dich dann kontrolliert, lässt er dich fallen und sucht sich ein neues Opfer.

      David wusste damals, wenn er dieses kleine sechs mal zwei Meter große Universum in der Anstalt verlassen wird, dass dann der große Kampf erst anfängt. Dort war er sicher. Doch wenn sich das Tor für ihn öffnen würde, mit dem Koffer in der Hand, die ersten Schritte nach draußen wagend, dann begann ein anderes und sehr einsames Leben.

      ›Du musstest ein neues Leben beginnen und dich von allem trennen, was dich wieder in die dunklen Gänge der Anstalt bringen könnte. Doch die Versuchung und die Verlockung sind überall. Der Teufel lauert und wartet auf seine nächste Chance. Du läufst in einer Welt herum, die nicht mehr deine ist. Die Welt da draußen war eine fremde geworden. Du hattest Freunde, von denen du dich trennen musst. Du wirst verschwinden müssen. Dort, wo er dich nicht finden kann. Ganz weit weg.

      Bist du aber stark genug, dann wartet eine wunderbare Welt auf dich, die du schon lange vergessen hast. Von der du glaubtest, dass es sie gar nicht mehr gibt. Eine Welt, die ehrlich und schön ist. Ohne Angst, Lügen und bösen Versprechungen. Du wirst wieder andere Dinge wahrnehmen können. Du wirst wieder du selbst sein und vielleicht