Der leise Ruf des Schmetterlings. Hardy Krüger jr.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hardy Krüger jr.
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783906872711
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zog es vor, sich nach dem Frühstück wieder an den Schreibtisch zu setzen.

      Das Kaffeehaus an der Ecke, zwischen der Piazza Campo de’ Fiori und der Vicollo del Gallo, hatte sich kaum verändert. Obwohl es jetzt schon zwölf Jahre her war, dass David das letzte Mal hier gewesen war, sah es noch genauso aus wie früher und vermittelte ihm das Gefühl, als wäre kaum Zeit vergangen.

      Wie schön wäre es, wenn alle diese vergangenen Jahre nicht existierten. Wenn er nicht fortgegangen wäre, diese Stadt nicht verlassen hätte. Was wäre dann wohl aus seinem Leben geworden? Er dachte lange darüber nach, während er in der Sonne saß und das Treiben auf der Piazza beobachtete. Eines war klar, sein Leben wäre völlig anders verlaufen. Vielleicht wäre ihm vieles erspart geblieben. Aber wer wusste das schon. David machte sich ein paar Notizen zu diesen Gedanken.

       Die Leichtigkeit und das Glück, das ich damals hier empfand, war so unbeschwert und schön, wie es wohl nur selten Menschen wie mir begegnet.

      Dabei beobachtete er, wie sich ein älterer Herr an einen Nebentisch setzte. Er war groß und sah aus wie aus einem italienischen Film der 1960er-Jahre. Er war sehr gut gekleidet und trug in der einen Hand eine Zeitung und einen Blumenstrauß. In der anderen Hand hielt er einen Gehstock, mit dem er sein rechtes Bein entlastete. Das Sonderbare war nicht das aristokratische Erscheinungsbild dieses Herrn, sondern dass er zu jemandem sprach, der gar nicht da war. Zumindest hatte David diesen Eindruck. Er konnte sich auch irren, doch er fand es sonderbar. Vielleicht rief er auch nur nach der Bedienung. Die junge Frau, die heute Morgen Dienst hatte, unterhielt sich allerdings gerade mit einem anderen Gast. Als sie ihn jedoch bemerkte, unterbrach sie sofort das Gespräch und begrüßte ihn mit »Buongiorno, Signor Martinelli!«

      David kannte diesen Namen. Ja, er war diesem Mann schon einmal begegnet. Er konnte sich allerdings nicht mehr erinnern, wo. Signor Martinelli war sehr freundlich und machte der jungen Frau wohl auch ein paar Komplimente oder schenkte ihr ein paar schöne und aufmerksame Worte, die ihr Gesicht erhellten. Der aristokratische Mann war vom Leben gezeichnet. David konnte seinen Schmerz spüren. Er konnte sich das nicht erklären, aber spürte deutlich, dass der Mann litt. Ein Gefühl, das David sehr gut kannte.

      Die junge Dame nahm die Bestellung auf, ließ den Mann mit seiner Zeitung und den Blumen allein und verschwand im Kaffeehaus an der Ecke. Je mehr David darüber nachdachte, woher er diesen Mann kannte, desto mehr Bilder tauchten in seinem Kopf auf, die er schon vergessen hatte. Wie ein Buch, das man im Regal wiederentdeckt und durchblättert.

      Es war eine Eigenart des menschlichen Daseins, dass viele Momente in einem Leben, besonders die in der Kindheit, schnell vergessen werden. Andere wiederum sind so präsent, als wären sie erst gestern gewesen – Zeit. David schrieb in sein Notizbuch:

       Die Zeit

       Der Zeitgeist ist mir oft nicht zeitgeistreich genug, da die Zeit doch relativ ist. Ob die Zeit reicht für das, was wir vorhaben, in der Zeit, die uns geschenkt wird, hat damit zu tun, was wir mit der begrenzten Zeit im Bewusstsein tun. Wenn wir wissen, dass die Zeit nicht zeitlos ist, dann ist die Zeit viel wertvoller für den Augenblick. Dann schärft sich das Bewusstsein – für den Augenblick. Augenblicklich erkennen wir dann, wie wunderschön das Leben sein kann. Zeitnah ist es ratsam zu begreifen, dass rastlos die Zeit an uns vorbeizieht. Es ist Zeit, neue Wege zu gehen.

       Zurzeit ist für mich der Moment das Wichtigste. Denn meine Zeit ist jetzt. Der Augenblick. Das Hier und Jetzt. Für mich ist die Zeit zu vergeben, die Zeit der Dankbarkeit. Zeit für mich, einen Weg zu gehen, den ich noch nicht kenne. Es wurde Zeit! Mein Blick ist nicht auf Vergangenes gerichtet. Die Zeit ist schon verloren, schon geschehen. Im Bewusstsein gilt es, den Augenblick zu erfassen in seiner Ganzheit. Das erfordert viel Zeit. Sollte es wahr sein, dass die Gegenwart nur die Zeit von drei Sekunden andauert, dann muss ich mich beeilen. Andere Länder leben zwar versetzt in der Zeit, dennoch ist deren Zeit dieselbe. Auch das macht uns »gleich«. So viele Hinweise zeigt uns das Leben und es wird Zeit zu begreifen, dass wir alle eins sind. Eins mit der Zeit!

       Ist es nicht Zeit, sich zu begegnen? Ein neuer Zeitgeist ist doch schon zu spüren. Der Wandel ist zu erkennen. Ein neues Bewusstsein gibt uns die Chance, sich die Zeit zu nehmen und aufeinander zuzugehen. Also warum nicht sich die Zeit nehmen, auf Menschen zuzugehen. Es besteht kein Grund, Angst zu haben. Die Angst der Menschen heutzutage entsteht nur dadurch, dass sie allein gelassen werden. Würde man jeden mit Respekt behandeln, wenn das Bewusstsein allgegenwärtig wäre, dass wir alle Menschen sind, die nur begrenzte Zeit geschenkt bekommen haben? So sollten wir die Zeit miteinander nutzen, um die Dinge für die, die noch mehr Zeit haben, zu ändern. Sodass man sich an ihnen erfreuen kann. Ohne Angst vor Unterdrückung. Ohne ihre Menschenrechte zu verletzen. Ohne die Grausamkeiten der Vergangenheit (Zeitzeugen gibt es genug, die uns warnen) wieder aufkommen zu lassen. Wir sollten ihnen die Einsamkeit, die Angst, die Hilflosigkeit durch Achtsamkeit und Liebe nehmen. Zeit heißt Zukunft. Starke Worte. Sie sagen aber alles, was nötig sein sollte, um zu begreifen, dass der Augenblick sehr viel bewegen kann.

       Es gibt Zeiten, da fällt es mir schwer, die Augen zu schließen und mir Ruhe zu gönnen. So viel geht mir durch den Kopf. Gedanken kreisen und was bleibt, sind oft Sorgen. Mir ist klar, dass ich mir die Zeit nehmen muss, um das zu sagen, was ich fühle und denke. Es ist nicht die Zeit der Stille. Es ist die Zeit des Austausches. Nehmt euch Zeit, in euch zu gehen, und nehmt euch die Zeit der Begegnung mit euch selbst und mit anderen.

      David schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es Zeit für ihn war, weiter an seinem Buch zu schreiben und sich an seinen Schreibtisch zu setzen. Er bezahlte das Frühstück und warf noch mal einen Blick auf Signor Martinelli, der in seine Zeitung vertieft war.

      Als David wieder vor seinem Haus ankam, blieb er stehen und betrachtete, wie sich dieses kleine Häuschen zwischen die Rückgebäude der zwei Palazzi quetschte. Majestätisch und stolz standen sie da. Die Menschen, die über die Piazza liefen, blieben oft vor ihnen stehen und bewunderten sie, machten Fotos und hörten sich ihre Geschichten an. Viele Staatsmänner und Diktatoren hatten sie bewohnt. Sie hatten Kriege überlebt und auf die Geschichte der Welt großen Einfluss gehabt. Sein kleines Häuschen hingegen hatte mit all dem wohl nichts zu tun. Es sah eher so aus, als würde es sich verstecken wollen, als hätte es hier nichts zu suchen. Nun stand es da und passte da eigentlich nicht hin, in der kleinen Gasse der alten Antiquitätenhändler. Einige Maler hatten sich hier angesiedelt. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Gasse war so klein, dass selbst die Vespas kaum durchfahren konnten. Die kleinen Läden, die aussahen, als würden sie sich hier verstecken, hatten nur zwei kleinen Häusern Platz gemacht: dem der Familie Mazzini und dem kleinen Häuschen gegenüber, in dem David wohnte.

      Er legte sich aufs Bett, ließ für einen Moment die Augen zufallen und genoss diesen Augenblick. ›Ich bin in Rom, dem Ort, der mich schon einmal so glücklich gemacht hat, was ich nie vergessen kann‹, dachte er. Jeder Augenblick, jeder Moment war ihm im Gedächtnis geblieben. Selbst nach all der Zeit. Hier war er glücklich und sicher. ›Hier ist das richtige Leben.‹ Hierher hatte er sich immer geträumt, in den Nächten der Qual und der Angst. Hier sollte es sein, hier wollte er sein neues Leben beginnen. Ein Gefühl von Freiheit überkam ihn. Hier war es gut. ›Ich bin zurück.‹ Er atmete tief aus und schlief ein.

      Als er wieder aufwachte, schaute er zur Decke seines Zimmers. Da waren sie wieder, die Schatten. Er kannte sie nur allzu gut. Vor vielen Jahren hatte er genauso dagelegen. Doch das Gefühl von damals war anders. Auch lag er damals nicht allein. Jetzt war es wieder so, als würden die Schatten an der Decke ihm Zeichen geben. Figuren bildeten sich und verformten sich nach einem Moment. Damals hatten sie Stunden an die Decke gestarrt und Figuren erfunden, ihnen Namen gegeben. Geschichten erfunden und viel gelacht. Liebe gemacht und waren glücklich, frei und das Leben war leicht. Wie der Flug eines Schmetterlings.

      Jetzt fühlte sich sein Körper schwer an und die Knochen taten ihm weh. Doch das Gefühl der Zufriedenheit spürte er tief in sich. Er schloss die Augen und lauschte dem Treiben der Stadt. Ein buntes Treiben. ›Wo buntes Leben ist, dort findest du auch Sinnlichkeit. Hier ist genau der richtige Ort, um mein Leben neu anzufangen‹, dachte er.

      Einmal hatte David die Liebe gespürt.