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Der EuGH hat ferner bereits im Bosch-Urteil[21] festgestellt, dass es sich beim Rückwirkungsverbot um eine elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips handelt, die auch im Unionsrecht – hier entschieden für das Kartellordnungswidrigkeitenrecht – Geltung beansprucht. Diese Entscheidung wurde auch in dem Fall Regina/Kirk Kent[22] noch einmal bestätigt.[23] Hier hatte sich der EuGH insb. auf Art. 7 EMRK berufen und festgestellt, dass auch eine rückwirkende Inkraftsetzung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts keine nationalen Strafsanktionen rechtfertigen könne.[24]
d) Lex mitior (Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh)
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Anders als das deutsche Verfassungsrecht garantiert die europäische Grundrechte-Charta das Milderungsgebot (Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh). Dieser auch lex mitior genannte Grundsatz ordnet die Verhängung der strafrechtlichen Sanktion aus dem mildesten Gesetzes an.[25] Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des mildesten Strafgesetzes gehört nach Auffassung des EuGH zur gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten.[26] Dabei kommt es auf die günstigste Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung an.[27] Relevant sind auch günstigere Zwischengesetze, selbst kürzeste ungeregelte Zeiträume können hier zu einer Milderung, sogar zur Straffreiheit führen. In der Entscheidung Berlusconi hat der EuGH[28] weiterhin festgestellt, dass das Milderungsgebot auch dann gilt, wenn sich durch seine Anwendung Beeinträchtigungen der Ziele des Unionsrechts ergeben; in diesen Fällen überwiegt das Gebot der Rechtsstaatlichkeit das Interesse an der Verfolgung der jeweiligen Unionspolitik.
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Unionsrechtliche Regelungen, die wegen des Anwendungsvorrangs zu einer Milderung der nationalen Strafrechtslage führen, sind als Minderungen auch i.S.v. § 2 Abs. 3 StGB zu berücksichtigen. Das gilt sowohl für Verordnungen, die Blankette ausfüllen, als auch für Richtlinien und Rahmbeschlüsse, die begünstigend für den Täter wirken.[29]
Anmerkungen
Vgl. hierzu auch Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 204 ff.
EuGH Slg. 1995, I-983 ff. – BLP; DStR 2006, 420 ff. – Halifax; DStR 2007, 1811 – Collée; DStR 2008, 450 ff. – Netto.
EuGH DStR 2006, 897 ff. (Federation of Technological Industries), EuGH DStRE 2008, 109 ff. – Teleos.
EuGH DStR 2008, 110; vgl. auch EuGH NZWiSt 2013, 102, 107, Rn. 47 – Mahageben und David m. Anm. Madauß; EuGH DStRE 2013, 803, 806 f., Rn. 40 f. – Bonik; ferner BGH NStZ 2014, 331, 333; m. Anm. Sens NZWiSt 2014, 463 ff.
Vgl. BGH NStZ 2014, 331, 334.
Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 217 ff.; krit. zur Herleitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus dem Rechtsstaatsprinzip Kaspar Verhältnismäßigkeit, S. 104.
EuGH NJW 1990, 2245 f.
EuGH EuZW 1999, 345, 346.
EuGH DStR 2006, 897 ff.
Vgl. hierzu auch Bülte CCZ 2009, 98, 99.
Vgl. zur Rechtsprechung des EuGH zu den rechtsstaatlichen Garantien auch die Nachweise bei Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Satzger § 1 Rn. 71.
Vgl. EuGH Slg. 1999, I-4287 Rn. 149 – Hüls; ferner EuGH Slg. 1999, I-4539 Rn. 175 Montecatini zur Unschuldsvermutung.
EuGH NZA 1997, 307 ff.
Vgl. BVerfGE 73, 206, 234; LK/Dannecker § 1 Rn. 35 ff.; 179 ff.; ferner zum verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz im Kontext der Internationalisierung des Strafrechts Satzger JuS 2004, 943 ff.
Vgl. hierzu u.a. BVerfGE 105, 135, 153 f. m.w.N.; LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 119, 131; ferner für das europäische Steuerstrafrecht Bülte BB 2010, 1759, 1766 f.
EuGH DStR 2006, 420 ff. – Halifax.
EuGH NJW 2007, 2237, 2239; eingehend Graf/Jäger/Wittig/Bülte § 370 AO Rn. 391; ders. BB 2010, 1759, 1765 f.
Vgl. die Nachweise bei LK-StGB/Dannecker § 1 Rn. 36; Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 209 ff.
Vgl. EuGH Slg. 2011, I-2539 ff.; vgl. auch Wabnitz/Janovsky/Dannecker/Bülte Kap. 2 Rn. 214.
Vgl. Bülte BB 2010, 1759, 1768.
EuGH Slg. 1962, 97 ff.