Fiskalstrafrecht. Udo Wackernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Wackernagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783811406629
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Doppelrolle“ der Grundrechtecharta, deren Wirkung sich nach der Stufe der Harmonisierung richtet.[19]

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      1. Für das vollharmonisierte europäische Strafrecht (insb. das Haftbefehlsrecht) gilt, dass die nationalen Rechtsvorschriften aufgrund ihres Wortlauts in vollem Umfang den auf Unionsebene harmonisierten Regelungen unterfallen bzw. sie funktional so nahe an diesen europäischen Regelungen orientiert sind, dass das nationale Recht letztlich durch das Unionsrecht vorweggenommen wird. In diesem Fall ergeben sich die erschöpfenden und eindeutigen Regelungen für die konkrete Frage durch das Unionsrecht. Die EU-GRCh wird hier nicht nur zum Mindest- sondern auch zum Höchststandard; nationale Grundrechte kommen nicht mehr zum Tragen.

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      2. Soweit das Recht der Mitgliedstaaten nicht voll harmonisiert ist, also die nationalen Rechtsvorschriften nicht von einer derartigen textlichen oder hinreichend engen funktionalen Vorwegnahme erfasst sind, gelten auch dann doppelte Grundrechtstandards, wenn die jeweilige Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Die Vorgaben der EU-GRCh werden hier zum Mindeststandard und nationale Grundrechte sind anzuwenden. Innerhalb dieser Kategorie sind Differenzierungen möglich, weil auch der Grad der Harmonisierung in diesem Bereich sehr unterschiedlich ausfallen kann. Während das allgemeine Strafverfahrensrecht ebenso wie das Recht der Steuererhebung weitgehend nicht harmonisiert ist, gelten im materiellen Umsatzsteuerstrafrecht Grundsatzvorgaben der Europäischen Union. In diesem Bereich ist es daher erforderlich, sich jede einzelne Vorschrift im Sinne einer „Mikrobetrachtung“ genau anzuschauen, um den Grad der Harmonisierung festzustellen.

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      Aus dieser Systematisierung leitet der Generalanwalt her, dass es in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers sei, nationale Vorschriften so zu fassen, dass sie dem Unionsrecht entsprechen. Der EuGH könne insofern nur die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht feststellen, nicht aber das nationale Gericht zu einer Nichtanwendung des nationalen Rechts zwingen. In diesem Fall würde nämlich auch der unionsrechtliche Grundsatz der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit verletzt, soweit die Kriterien der Nichtanwendung nicht hinreichend geklärt sind. Auch die Effektivität des Unionsrechts sei kein valides Argument für die Nichtanwendung nationalen Rechts, weil diesem Kriterium die hinreichende Bestimmtheit fehle. Zumindest nach diesem Ansatz dürfte daher eine Nichtanwendung nationalen Rechts zum Schutz eines Beschuldigten im Kontext des europäischen Mehrwertsteuerstrafrechts schwer denkbar sein. Es ist festzuhalten, dass die Auffassung des Generalsanwalts damit grundsätzlich der Rechtsprechung des EuGH in der Sache Taricco widerspricht. Wie allerdings der Fall zu behandeln ist, dass in einem voll harmonisierten Bereich nationale Regelungen dem Unionsrecht widersprechen, lässt die Stellungnahme des Generalsanwalts offen.

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      Zu beachten ist jedoch, dass die Richtlinie (EU) 2017/1371 einige Vorgaben mit sich bringt, die durchaus als Vollharmonisierung betrachtet werden können. Dies gilt etwa für die materiellen Straftatbestände der Art. 3–5, die Verantwortlichkeit von und Sanktionen gegen juristische Personen aus Art. 6 und Art. 9 sowie die Mindestvorgaben für Freiheitsstrafen für natürliche Personen in Art. 7. Schließlich auch die Mindestvorgaben für Verjährungsfristen. Insofern bringt die Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union Harmonisierungen dadurch mit sich, dass bestimmte Begriffe europäisiert werden. So wird etwa festgestellt, dass die Verjährungsregelungen als Verfahrensrecht verstanden werden und Art. 49 EU-GRCh nicht gelten soll. Mit der verbindlichen Wirkung dieser Richtlinie dürfte eine Berufung darauf, dass auch für die Verjährungsregeln der strenge Gesetzesvorbehalt gelten soll, zumindest für den Bereich des Mehrwertsteuerstrafrechts nicht mehr möglich sein. Denn soweit die Mindestvorgaben reichen, dürfte eine Vollharmonisierung anzunehmen sein.

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      Für das deutsche Umsatzsteuerstrafrecht sind keine nennenswerten Probleme ersichtlich, weil der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union bereits vor der maßgeblichen Frist weitgehend umgesetzt hatte. Auch das BVerfG sieht Art. 103 Abs. 2 GG grundsätzlich nicht als auf Verjährungsregelungen anwendbar an. Da dürften auch im deutschen Umsatzsteuerstrafrecht keine Gefahren für den Grundrechtsschutz durch geringere Standards des Unionsrechts drohen. Insbesondere kann aus der EuGH-Rechtsprechung nicht abgeleitet werden, dass niemals eine Umsatzsteuerhinterziehung straflos sein dürfe. Der Gerichtshof hat lediglich angemerkt, dass systematische und massenhafte Fälle der Sanktionslosigkeit nicht auftreten dürfen, was in Deutschland aber auch nicht der Fall ist.

      Anmerkungen

       [1]

      EuGH NJW 2013, 1415 ff. – Fransson; hierzu insb. Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser § 56 Rn. 12 ff.

       [2]

      EuGH NJW 2013, 1215 (1219, Rn. 60) – Melloni.

       [3]

      Vgl. die Nachweise bei Bülte/Krell StV 2013, 713, 715.

       [4]

      So aber wohl Brodowski HRRS 2013, 54, 55 f.; ferner Gaede NJW 2013,1279 f.

       [5]

      EuGH EuZW 2003, 666 (670, Rn. 69) – Steffensen m.w.N.

       [6]

      Vgl. auch Risse HRRS 2014, 93, 107.

       [7]

      EuGH EuZW 2003, 666, 670, Rn. 69 – Steffensen m.w.N.; vgl. Dannecker ZLR 2009, 606 ff.

       [8]

      Vgl. hierzu Bülte/Krell StV 2013, 713, 717 ff.; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser § 56 Rn. 12 ff.

       [9]

      Insofern zurückhaltend Risse HRRS 2014, 93, 107.

       [10]

      Vgl. Bülte/Krell StV 2013, 713, 717 ff.; Sieber/Satzger/v. Heintschel-Heinegg/Esser § 56 Rn. 20.

       [11]

      EuGH 5.6.2018 – C-612/15 – Kolev Rn. 44, 75.

       [12]

      EuGH Rs. C-310/16 –Dzivev.

       [13]

      Stellungnahme des Generalanwalts v. 25.7.2018 – C-310/16).

       [14]

      Stellungnahme des Generalanwalts v. 25.7.2018 – C-310/16, Rn. 48 ff.

       [15]

      Stellungnahme des Generalanwalts v. 25.7.2018 – C-310/16, Rn. 52.

       [16]

      EuGH