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Vielmehr wird durch die Entscheidung in der Rechtssache Steffensen[7] deutlich, dass das (hohe) Grundrechtsniveau differenziert im jeweiligen Verfahren betrachtet werden muss. In dieser Entscheidung zum Lebensmittelstrafrecht wurde deutlich, dass sich der Beschuldigte/Betroffene in einem Sanktionsverfahren unmittelbar auf das Unionsrecht und damit auch auf die europäischen Grundrechte berufen kann, auch wenn es um Verfahrensrechte geht, die das nationale Strafrecht nicht oder nicht so vorsieht. Hier hatte Art. 7 der Richtlinie bei Lebensmittelüberwachung ein sehr weitreichendes Recht auf eine Gegenprobe vorgesehen, das aus dem nationalen Strafprozessrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahrensrecht nicht hergeleitet werden konnte. Aus der Verletzung dieses Rechts zur Gegenprobe wurde nach einer Gesamtbewertung auf der Grundlage von Art. 6 EMRK (Recht auf faires Verfahren) ein Beweisverwertungsverbot hergeleitet, das sich nach nationaler Bewertung kaum hätte rechtfertigen lassen. Die Notwendigkeit, dieses Ordnungswidrigkeitenverfahren vor dem Hintergrund der europäischen Grundrechte zu bewerten, ergab sich daraus, dass es sich um den Bereich des Lebensmittelstrafrechts und damit um Strafrecht zur Umsetzung europäisch harmonisierten Rechts handelte.
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Aufgrund dieses Einflusses der europäischen Grundrechte auf bestimmte Bereiche des Strafrechts kann es im Einzelfall notwendig sein, die Grundrechtsstandards in der Anwendung von Strafrecht und auch im Strafverfahrensrecht differenziert zu bestimmen.[8] Soweit es den hier relevanten Zusammenhang des Fiskalstrafrechts angeht, wird dies insb. im Bereich der Umsatzsteuerhinterziehung eine zentrale Rolle spielen. Insofern hat der EuGH in der Fransson-Entscheidung bereits deutlich gemacht, dass im Umsatzsteuerstrafrecht europäische Grundrechtsstandards gelten. Unklar ist insofern aber, ob dies auch eine Einschränkung nationaler verfassungsrechtlicher Gewährleistungen zur Folge haben kann.[9]
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Bislang ist die Frage unbeantwortet geblieben, ob sich der Beschuldigte in einem Strafverfahren wegen einer „europäisierten“ Straftat auch auf deutsche Grundrechtsstandard- und Verfahrensrechte berufen kann, wenn diese im Einzelfall über die Gewährleistungen aus der EMRK und der GRCh hinausgehen und zudem eine Beeinträchtigung der Durchführung europäischen Rechts bedeuten könnten (GRCh als Höchststandard). Diese letztere Bedingung ist insofern nicht fernliegend, als die Nichtverhängung einer Sanktion bei Mehrwertsteuermissbrauch regelmäßig zu einem Durchsetzungsdefizit führen kann. Eklatante Grundrechtslücken sind in diesem Bereich jedoch derzeit nicht erkennbar. Hier bleibt insb. abzuwarten, wie sich der EuGH und das BVerfG in dieser Frage positionieren werden.[10]
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In der Sache Kolev hat der EuGH[11] in Ergänzung zur Taricco-Entscheidung (vgl. Rn. 31) festgestellt, das vorlegende Gericht müsse die volle Wirksamkeit dieser Verpflichtungen gewährleisten, indem es diese Regelung so weit wie möglich im Licht von Art. 325 Abs. 1 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof auslegt oder sie erforderlichenfalls unangewendet lässt. Es müsse allerdings darauf achten, dass die Grundrechte, die den Beschuldigten des Ausgangsverfahrens nach der Charta zustehen, gewahrt werden. Dennoch dürfe ein nationales Gericht ein Strafverfahren nicht allein deshalb einstellen, weil die Einstellung die für die Beschuldigten hinsichtlich ihres Rechts darauf, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, sowie hinsichtlich ihrer Verteidigungsrechte die günstigste Lösung darstellt. Die Anwendung nationaler Grundrechtsstandards stehe unter der Bedingung, dass dadurch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden. Diese Entscheidung erweckt den Eindruck, als kehre der EuGH nach einer Lockerung der Vorgaben der Taricco-Entscheidung durch die M.A.S.-Entscheidung (hier Rn. 27g) wieder zu seiner strengen Linie zurück.
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Besondere Bedeutung dürfte vor diesem Hintergrund die Entscheidung des EuGH in der Sache Dzivev[12] haben. Hier hat der Generalanwalt Bobek in einem bulgarischen Fall seine Sicht zu den Grundrechtsstandards in der EU dargelegt und eine Systematisierung vorgenommen.[13] Zunächst stellt er die Verpflichtungen jedes Mitgliedstaates nach Art. 325 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV fest, die Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten sowie Steuerhinterziehungen und andere Formen der Steuerumgehung zu bekämpfen. Dabei haben die Staaten und ihre Organe die Grundrechtecharta der Europäischen Union zu achten. Jedoch stehe es den Mitgliedstaaten frei, in einer Situation, in der ihr Handeln nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt sei, weiterhin nationale Grundrechtsstandards anzuwenden, soweit dadurch einerseits der Grundrechtsschutz nicht verringert wird und andererseits der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt werden.[14]
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Vor diesem Hintergrund sei die Taricco-Entscheidung des EuGH ergangen, in der der Gerichtshof ausführte, dass eine nationale Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht nicht vereinbar sei, wenn durch die darin geregelte zu kurze Verjährungsfrist die Ahndung schwerer Betrugstaten in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen verhindert werde. Eine solche Vorschrift dürfe nicht angewendet werden. Jedoch müsse das nationale Gericht bei seiner Entscheidung über die Nichtanwendung die Grundrechte der betroffenen Personen berücksichtigen, insb. dürfe Art. 49 EU-GRCh nicht verletzt werden.[15] Diese Entscheidung habe der EuGH in der Sache M.A.S.[16] dahingehend konkretisiert, dass der Anwendungsvorrang nicht so weit gehe, dass auf diese Weise die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaates in Frage gestellt werde.
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Jedoch machte der EuGH in dieser Entscheidung auch deutlich, dass die Gewährleistung von nationalen Grundrechten in nationalen Strafverfahren über die Standards der EU hinaus im Bereich des Mehrwertsteuerrechts nur soweit zulässig ist; wie noch keine unionsweite Harmonisierung stattgefunden hat.[17] Das maßgebliche Kriterium für die Frage der Auslegung ist also der Grad der Harmonisierung. Das klingt bereits in der M.A.S.-Entscheidung an, wird aber vom Generalanwalt noch einmal betont:
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Er kritisiert die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Frage, wann nationales Recht unangewendet bleiben muss, als zu unklar und insofern mit dem Bestimmtheitsgrundsatz möglicherweise unvereinbar. So weist er in seiner Stellungnahme darauf hin, dass der EuGH in der Taricco-Entscheidung offen gelassen habe, was unter einer beträchtlichen Anzahl von Fällen zu verstehen ist. Ferner ergebe sich aus der Entscheidung zur Sache Kolev nicht hinreichend klar, was unter einer systemischen Gefahr zu verstehen sei. Schließlich müsse auch berücksichtigt werden, dass es grundsätzlich Sache des nationalen Gesetzgebers sei, strukturelle Probleme bei der Bekämpfung von Umsatzsteuerkriminalität durch gesetzliche Regelungen zu beheben. Solche Probleme könnten nicht durch eine Auslegung jenseits des Wortlauts nationaler Gesetze gelöst werden.[18]
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Zur Systematisierung der Rechtsprechung des EuGH orientiert sich der Generalanwalt am Begriff der Harmonisierung und schlägt eine „Mikrobetrachtung“ der unionsrechtskonform auszulegenden und ggf. nicht anzuwendenden Vorschriften vor. Nur wenn die konkrete Regelung eindeutig durch das Unionsrecht vorbestimmt sei, keinen inhaltlichen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten zulasse und im konkreten Einzelfall auch anwendbar sei, liege eine Harmonisierung vor, die möglicherweise dazu führen könne, dass eine nationale Vorschrift keine Anwendung finde. Damit entstehen letztlich zwei Harmonisierungskategorien.