Er kannte natürlich auch einen von ihnen. „Das war es!“, trumpfte er nun auf. „Der Totonaken-Häuptling ist bestimmt schon hingerichtet worden. Zwei Schergen haben ihn mit einer Baumwollschnur erdrosselt.“
„Das hat er sich gefallen lassen?“
„Ixiptla-tzin, was sollte er tun? Hinter den Schergen standen ja die Krieger aus unserer Garnison.“
„So einfach ist das?“
„Meistens“, sagte Schädelwand.
Jadefisch zog sich der Hals zusammen. Er warf einen Blick auf Goldfasan. Der widersprach nicht, sondern seine Augen glänzten vor Bewunderung. Wie mächtig Motecuzoma war!
Immer unwiderstehlicher zog es Jadefisch zum Königspalast. Bislang hatte er die Nähe des Großen Sprechers gemieden, hatte nur ein einziges Mal von der Pyramide des Tezcatlipoca in Richtung Süden auf die Palastanlagen geschaut. Was aber hatte er zu befürchten? Jadefisch begann, um den Palast zu streichen. Hier saß, im ersten Stock über der Marmortreppe, der Große Sprecher auf dem Jaguarthron und hielt die ganze Welt am Faden. Alles drehte sich um ihn.
5
Die Regensonne hat die Macht ergriffen. Luft wird zu Wasser, Boden zu einem Laichgrund für Frösche und Kröten. Fische schwimmen durch die Straßen, springen die Stufen zum Thronsaal empor; auch er versinkt in der aquatischen Welt, Motecuzoma braucht dringend Kiemen – wo, bei den Göttern, bleibt der Diener?
„Totecuiyo?“
Na endlich. Aber weshalb hörte er den Diener so gedämpft, als ob er Stöpsel in den Ohren hätte? Viel zu langsam tauchte er aus den Fluten seines Traumes auf. Er schnappte nach Luft, ihn fror. Der Diener legte ihm einen Mantel um und stellte ein Feuerbecken auf. Über ihm prügelte der Regen das Dach.
„Bring noch sechs Papageienfedermäntel, mein Vater, von der Farbe des Feuers, mehr gelb als rot.“ Die Könige Cholollans, die er zu geheimen Verhandlungen eingeladen hatte, erholten sich in ihrer Residenz. Zu der Zeit, da die frühe Nachmittagssonne sich von den Wolken verschlucken ließ, hatten sie in Sänften mit falschen Emblemen die Brücke der Festung Xoloc passiert. Als sie ausgestiegen waren, hatte schon der Regen sie umsponnen. Unmöglich, dass ein Unbefugter sie erkannt haben könnte.
Der Diener kam wieder. Er schlug einen Vorhang hinter dem Thron zur Seite, und Motecuzoma schlüpfte durch die geheime Tür in den angrenzenden Saal, wo er neben Schilden, Fächern und Geschmeide auch die sechs Federmäntel vorfand. Er kontrollierte noch einmal alles und schritt zufrieden den Kreis der Sitze ab.
Am Abend empfing er die Gäste. „Meine älteren Brüder, ihr seid in eure Stadt gekommen – auf eure Matte, euren Thron.“ Er überreichte die Geschenke und bewunderte wortreich die ihren. Unvergleichliches Geschirr für seine Tafel, orangefarben und mit mythischen Szenen kunstreich bemalt, schimmerte im Fackelschein. „Was für eine Augenweide! Die Stadt der Grünfederschlange hat ihren Ruf zu Recht. Sie wird noch mehr Prestige erlangen – und meine älteren Brüder mit ihr.“
Links neben ihm raschelte Temic, der Herr Traum aus Cholollan-Am-Markt, erfreut mit seinem Federmantel. Nachtjaguar, der den Sitz zu seiner Rechten, angeblich um den Ältesten zu ehren, ausgeschlagen hatte, lächelte undefinierbar von gegenüber. Die Übrigen interessierten nicht.
Der Diener stellte einen Krug und sieben hohe Becher mit Trinkrohren vor Motecuzoma; der Gastgeber füllte sie eigenhändig. „Herz und Blut!“ Der rote, scharf gewürzte Schaum aus der frischen Kakaobohne zerging auf der Zunge. „Malt euch ein neues Reich aus – das wiedergeborene Reich der Tolteken, ein blühendes Land, von Eintracht regiert“, begann Motecuzoma, nachdem sie das Getränk genossen hatten. Er redete die Könige Cholollans um ihren Verstand, damit sie unbedingt dazugehören wollten. Er ließ das neue Reich erstrahlen; er säte Mais, der fünfmal trug, er pflanzte Bäume, die bis in den Himmel wuchsen, und baute goldene Städte ohne Festungsringe. Seine Gäste ließen sich verlocken.
„Was müssen wir dafür bezahlen?“, fragte Temic, der nicht nur der ranghöchste Sprecher der sechs, sondern auch der Oberste der Kaufmannschaft Cholollans war.
„Nichts“, sagte Motecuzoma betont. „Wir haben euch ja nicht erobert, und für einen freiwilligen Beitritt fordert der aztekische Bund niemals Tribut.“
„Nur freiwillige Geschenke“, stichelte der Sprecher links neben Nachtjaguar. Nachtjaguar selbst blieb unbeteiligt.
„Das ist so üblich“, rügte Temic. „Ich habe kein Problem damit. Wir werden schließlich alle davon profitieren.“
„Ach, sind wir schon beigetreten?“, gab die spitze Zunge zurück.
„Welchen Nutzen würden wir denn daraus ziehen?“, fragte Nachtjaguar.
Motecuzoma schwieg gewichtig. Die sechs sahen ihn erwartungsvoll an. „Ist Cholollan nicht die Stadt der Grünfederschlange?“, begann er endlich salbungsvoll. „Befolgen wir nicht alle seit jeher die Gesetze, die sie uns gab? Wie sollte sie da nicht die heilige Stadt unseres Reiches sein?“
„Ist sie das nicht längst?“, meldete sich der Älteste rechts neben Motecuzoma.
„Das würde niemand leugnen, zieht sie doch das ganze Jahr hindurch Scharen von Pilgern an. Allerdings war sie dereinst auch anerkannt als Ort der Fürstenweihen. Mit dem geheiligten Adlerknochen haben eure beiden Hohenpriester selbst den Mächtigsten der Welt die Nasenscheidewand durchbohrt und ihnen den Herrscherschmuck eingesetzt. So soll es wieder sein.“
Nachtjaguar und Temic tauschten einen Blick. „So viel Macht willst du uns geben?“, fragte für sie die spitze Zunge.
„Das ist mein Wille. Ich werde eure Hohepriester anerkennen.“
„Ach, meinst du: sie ernennen?“
Motecuzoma fühlte sich durchschaut. „Welchen Einfluss hätte ich wohl? Wählt ihr nicht stets die ältesten Priester? Ich werde dies gewiss nicht ändern.“
Damit schienen alle zufrieden. Temic kam auf den Handel zu sprechen. „Welche Privilegien lässt du unseren Pochteken, die mit ihren Tauschwaren bis an die Meeresküsten und in die Wälder der Maya ziehen?“
„Du fürchtest, Tenochtitlan will den Fernhandel allein kontrollieren?“
„Ihr habt nur wenigen Städten Fernhandelsrechte verliehen.“
„Wir brauchen ein zweites Zentrum jenseits des Popocatepetl: Cholollan.”
In Temics Augen glimmte es. „Und den großen Markt in Tepeyacac lässt du fallen?“
„Sollte ich so unbedacht sein?“
„Tepeyacac war nichts weiter als ein Dorf, bevor ihr es erobert habt.“
„Heute gehen alle Waren aus dem Süden und Osten über diesen Markt. Auch Händler aus Cholollan sind dorthin gezogen.”
„Uns kommt das nicht zugute. Sie zahlen bei uns keine Marktsteuern mehr.“
„Ihr tauscht nicht etwa billig ein? Federn, Steine, Silber, Gold – was immer ihr benötigt, um euren edlen Schmuck zu schaffen, den ihr dann teuer weiterverkauft? Ihr werdet jenen Markt sehr brauchen, wenn ihr noch reicher werden wollt. Wird man nicht bald überall nach Gegenständen der Verehrung lechzen? Reliquien aus der heiligen Stadt … Und überhaupt: Was willst du auf dem ohnehin schon überfüllten Platz am Tempel des Quetzalcoatl noch alles unterbringen? Vielleicht den großen Vogelmarkt?“
Temic lachte. „Um das Gekreisch der Aras reiße ich mich nicht.“ Der Scheinkampf war vorüber.
Allerdings lag die Entscheidung nicht allein bei Temic. Die Könige mussten sich einig sein. Und sie wussten, was Cholollan wert war. Motecuzoma musste jedem einen Wunsch erfüllen. Nur Nachtjaguar hielt sich zurück. Er allein schien nichts zu fordern, und das beunruhigte Motecuzoma.
„Was