Die zerbrochenen Flöten. Ida Spix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ida Spix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948878139
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erhob. Nach seinem Aufstieg über steile 114 Stufen stand er atemlos dort oben, mit einem Rauschen in den Ohren und einem Schwindelgefühl im Kopf. Erst konnte er kaum etwas sehen, doch dann hob sich der Schleier von den Augen, und da lag die Stadt zu seinen Füßen! Tenochtitlan! Ein riesiger Bienenstock, durch hohe Dammstraßen und Aquädukte in Viertel geteilt und dem Festland verbunden, schwamm, Wabe an Wabe, auf der Lagune. Wie viele Häuser mochte es in jeder Himmelsrichtung geben? Zwei mal achttausend – oder noch mehr? Berauscht zog er die Flöte hervor und blies in die vier Winde hinaus.

       Zweites Kapitel

      Die Höhle des Toltekenkönigs

      4

      „Ich habe keinen Thronerben mehr!“, fauchte Nachtjaguar.

      Der Unterhändler blieb gelassen. „Hast du keinen Sohn mehr, o Herr?“

      „Keinen, dem ein König seine Tochter geben würde. Seine Mutter ist nur die Tochter eines kleinen Fürsten. Er kann niemals den Königstitel tragen.“

      „Die Zeiten ändern sich. Abstammung ist für meinen Herrn nicht halb so wichtig wie die Befähigung im Krieg. Und Sechs-Tod Feuerpfeil ist tapfer – ein Mann, der viele Gefangene nahm, ein Feldherr, der die Stadt zu schützen vermag.“

      „Er dient mir, nicht deinem Herrn.“

      „Indem er dir dient, dient er ihm.“

      „Mein Sohn hat schon eine Hauptgemahlin und ist frei, die zweite selbst zu wählen.“

      „Du hast also nichts dagegen?“

      „Was bewegt deinen König? Seit wann ist er mir wohlgesonnen?“

      „Er möchte sich mit dir verbünden.“

      „Will er Cholollan so billig erwerben?“

      „Er will keinen Krieg mit dir.“

      „Warst du schon bei den anderen fünf Sprechern?“

      „Mein Herr will erst dein Herz ergründen. Du bist es, der Cholollans Unabhängigkeit bewahrt. Wenn du dich seinem Wunsch verschließt, braucht er die anderen erst gar nicht zu fragen.“

      Nachtjaguar fühlte sich bedrängt. Ein Nein würde die Spannungen mit Tlaxcallan verstärken, ein Ja – die mit dem aztekischen Bund. Er musste Zeit gewinnen. „Was sagen eure anderen drei Herrscher?“

      Wie Cholollan wurde auch Tlaxcallan nicht nur von einem Herrscher regiert. Vor jeder wichtigen Entscheidung in Tlaxcallan trat der Rat der vier Könige zusammen, und dies geschah noch nicht einmal im Palast desjenigen, der den Unterhändler zu Nachtjaguar geschickt hatte. Dieser, Maxixca, war nur der Zweite im Rang. Sein Wort war es nicht, das bei Entscheidungen den Ausschlag gab.

      Der Unterhändler überging die Anspielung zunächst. „Das Heiraten steht jedem frei“, äußerte er obenhin, ließ dann aber doch wieder eine Klinge aufblitzen, als spräche er in Wahrheit vom Krieg. „Wäre mein Herr mit dir verbündet, wer würde dann noch gierig auf Cholollan schielen? Wer würde es wagen, euch anzugreifen?“

      Der Zweite von Tlaxcallan galt als Draufgänger, der zu Extremen neigte und – so befürchtete Nachtjaguar – durchaus bereit war, geltendes Recht zu brechen. Der Blumenkriegsvertrag verbot ihm jeden Angriff auf Cholollan, doch würde er sich daran halten? Es sah so aus, als wäre er mit seiner Stellung nicht zufrieden. Er griff nach mehr Macht, als ihm zustand. Nachtjaguar wollte nicht in sein Ränkespiel verwickelt werden, doch es erschien ihm auch nicht klug, ihn abzuweisen.

      „Ich schicke Sechs-Tod Feuerpfeil als meinen Gesandten an den Hof deines Herrn, des Herrschers Maxixca-tzin. Dann wird sich die Gelegenheit ergeben, dass mein Sohn das Mädchen sieht.“

      Der tlaxcaltekische Unterhändler verbeugte sich. „Deine Weisheit sei gepriesen.“ Als er fort war, atmete Nachtjaguar auf.

      Er kam aber nicht dazu, die Angelegenheit zu überdenken, denn der nächste Besucher wurde bereits gemeldet. Seitdem die Fremden im Lande waren, schien es Boten vom Himmel zu regnen: von den Totonaken an der Küste, den Otomi von der Nordwestgrenze Tlaxcallans, den Tlaxcalteken selbst – so wie der letzte eben – und jetzt schon wieder einer von dort, wie die Kordel um seine Stirn verriet.

      „Was führt dich zu mir?“, fragte Nachtjaguar mürrisch.

      „Mein Herr will dir Ehre erweisen“, näselte der Bote.

      Nachtjaguar konnte den Dialekt Tlaxcallans nicht mehr hören. „Mir werden dauernd Töchter angeboten. Welcher der vier Könige hat dich geschickt?“

      „Keiner.“ Der Bote legte erst das Stirnband, dann den Umhang ab. Zum Vorschein kam ein zweiter, heller, mit Augenmusterborte. „Zu deinen Diensten. Tlacotl aus Tenochtitlan!“

      Nachtjaguar ließ sich die Überraschung nicht anmerken. „Was wünscht Motecuzoma?“

      „Nichts.“

      „Dann kannst du ja wieder gehen.“

      „Der Große Sprecher hat deinen Sohn Jadefisch erhöht. Er ist das Abbild des Tezcatlipoca!“

      Nachtjaguar wich das Blut aus dem Kopf. Tlacotl sprach von Ehre, von der Würde, die sein Sohn ausstrahlte, von der Erhabenheit seiner Person und der Vollkommenheit seines Flötenspiels. „Du wirst doch kommen?“, hörte er es säuseln.

      Motecuzoma mutete ihm zu, das Opfer anzusehen? Nachtjaguar begann sich zu wehren. „Warum schickt er dich schon jetzt? In einem Jahr kann viel geschehen.“ Er würde sich mit Tlaxcallan verbünden, dachte er hasserfüllt.

      „Nicht doch“, sagte Tlacotl. „Du sollst Jadefisch in aller Pracht erleben. Du kannst ihn sehen, mit ihm sprechen. Motecuzoma gibt dir eine Residenz, damit du nach Belieben kommen und gehen kannst. Schließlich bist du der verehrte Vater unseres Gottesabbildes.“

      „Das hat es noch nie gegeben.“

      „Die Zeiten ändern sich.“

      „Du bist der Zweite, der mir das sagt.“ Nachtjaguar ließ alle Vorsicht außer Acht. Ein aberwitziger Wunsch erhellte wie ein Blitz die Dunkelheit, in der er lebte, seitdem er keinen Thronerben mehr hatte. Konnte er Jadefisch zurückgewinnen? Er sagte zu, gleichzeitig seine Schwäche verfluchend.

      Jadefisch fand sich in seiner Rolle nicht zurecht. Er spürte nie die göttliche Präsenz Tezcatlipocas. Umso mehr litt er darunter, dass er nur noch „Ixiptla-tzin“, „Sein verehrtes Abbild“, hieß. Als hätte er selbst keine Persönlichkeit. Sein Menschenname schien bedeutungslos, so wie auch sein Gesicht bedeutungslos war, unkenntlich unter der schwarzen Bemalung. Jeden Tag erwachte er in einem Lattenkäfig. Zum Schlafen schloss man ihn immer ein – wohl, damit er sich nicht, die Müdigkeit seiner Wächter ausnutzend, aus Tenochtitlan entfernte. Oder damit er den Tag als glücklichen Gegensatz zu jenem ihm auferlegten nächtlichen Leiden feierte, damit er Freude, Heiterkeit und Zuversicht ausstrahlte, wenn er – endlich wieder frei – durch die Stadt ziehen durfte.

      Vorher wurde er noch bemalt und geputzt. Manchmal kamen Würdenträger, um ihn zu ehren, sie spendeten ihm Blumen, Tabak, feine Speisen und Kakao. Der nachts ein Sklave war, saß ihnen tags als Gott der Götter gegenüber, angetan mit seinem ganzen Schmuck, mit dem Türkis im Nabel, mit den weißen Puffmaisblumen auf dem Haupt und seinem Antlitz, schwarz und glänzend wie die Statue im Heiligtum.

      Jeweils durch einen anderen Ausgang verließ er täglich den Tempelbezirk, ohne dass er sich viel bei der Reihenfolge dachte.

      „Er ist durch die Pforte des Schilfrohrs gegangen, in Richtung Osten“, meldete sein Gefolge dem Oberpriester. Tags darauf: „Nach Norden, durch das Tor der Spiegelschlange!“ – „Durchs Westtor am Alten Königspalast!“ – Zu guter Letzt: „Nach Süden! Durch die Adlerpforte!“

      Der Oberpriester zeigte sich erfreut. „Er hat den ersten Kreis vollendet.“

      Jadefisch