Der Herrscher sah Männer auf riesigen Hirschen. Sie rasten über das Land.
„Krieger der Totonaken sind mit ihnen.”
Motecuzoma sah auch sie.
„Krieger aus Tlaxcallan folgen.”
Motecuzoma sah Männer mit Tierhelmen, Schilden und Speeren im Spiegel.
„All jene kommen, die nicht unter deiner Herrschaft leben wollen.”
„Wer führt sie?”
„Ein entrechteter Prinz.”
Im Spiegel formte sich ein Antlitz, stolz, unbeugsam, auf dem Haupt ein roter Kamm, wie das Urbild eines Kriegers, ja des Krieges selbst: Vanilleblume!
„Hat Cacama es wie ich gesehen?“
„Cacama? Nein.“ Der Magier lachte. „Es ist Vanilleblume, der mich zu dir schickt.“
„Dann bist du eine Menscheneule.“ Motecuzoma wollte seine Wachen rufen, aber er brachte keinen Ton heraus, er konnte nicht einmal die Hand bewegen. Der Magier schwenkte eine zweite Rassel, die wie eine Klapperschlange klang. Das Geräusch nahm Motecuzoma den Willen. Er starrte wie gebannt in den Spiegel. Dort wälzte sich ein Heer heran! Die fremden Männer auf den großen Hirschen bildeten die Spitze. Sie zogen in Tenochtitlan ein. Sie schossen aus ihren Feuertrompeten und setzten die Pyramiden in Brand.
„Krieg! Tenochtitlan wird zuschanden werden! Es wird wie das Toltekenreich in Rauch und Asche untergehen!”
Dem Herrscher glitt der Spiegelvogel aus den Händen. Was für ein böser Atem von der Menscheneule ausging!
„Der Pfeil hat sein Ziel gefunden“, sagte die Menscheneule. Hilflos sah Motecuzoma an, wie sie sich bückte und in ihrem Sack das Zaubertier verstaute. Motecuzoma sank zusammen. Er nahm noch wahr, dass vorn am Ausgang seine Wachen ihre Lanzen kreuzten: Ohne sein Wort gelangte auch eine Menscheneule nicht hinaus.
Motecuzoma war in tiefen Schlaf gefallen. Nichts und niemandem gelang es, ihn zu wecken. Er wälzte sich auf seinem Lager und phantasierte wie im Fieber. Ein Name hallte durch die Träume: Huemac. So hieß der Toltekenkönig, dessen Reich untergegangen war. Am Abgrund stehend hatte er sich selbst den Tod gegeben. Motecuzomas Seele reiste in die Höhle, wo jener Selbstmord geschehen war. Sie irrte durch Gänge, Gewölbe und Grüfte, bis des Huemac Wächter sie stellten. Fürchterliche Schwerter wuchsen aus dem Boden, stachen von der Decke herab, verwehrten ihr den Weg zu Huemac, Hueeemaac, Eeemaaac. Motecuzomas Fieber stieg. Die Ärzte wussten nicht mehr weiter.
Nun spross die Sorge wie ein Giftkraut auf. Im Tempel des Tezcatlipoca versammelten sich morgens mehr Würdenträger als sonst zur Huldigung des Ixiptla. Sie saßen niedergeschlagen vor ihm und wagten schließlich gar, ihn anzureden. „Was sollen wir tun, Ixiptlatzin? Fremde Krieger sind im Land, und der Große Sprecher schläft. Wer wird die Stadt beschützen?“
Jadefisch verbarg die Überraschung hinter einer halb entrückten Göttermiene. Sein Vater hatte also Recht: Motecuzomas Stern begann zu sinken.
„Er erteilt nur noch Befehle, die keinen Sinn ergeben. So müssen seine verwachsenen Zwerge die Höhle des Toltekenkönigs aufsuchen und Opfergaben niederlegen. Er schickt sie immer wieder.“
„Und, gehen sie?“
„Ixiptla-tzin, wie sollten sie nicht? Es genügt, dass unser Herrscher die Lippen bewegt.“
„Spricht er nicht im Fieber?“
„Er ist der Große Sprecher!“
„Selbstverständlich. Aber sagt – nimmt der Toltekenkönig seine Opfergaben an?“
Die Würdenträger schluckten. „Ist es nicht so?“
„Seid unbesorgt. Jedoch, erlangt Motecuzoma seine Gunst?“
Der Priester-Weise schaltete sich ein. „Der Toltekenkönig weist ihn ab, damit er weiterlebt.“
„Gut gesprochen!“
Auf die Runde fiel ein Schatten. Der Oberpriester! Jadefisch fühlte sich ertappt. „Ich bete Tag und Nacht für seine Genesung“, sagte der Oberpriester. „Wie geht es ihm? Du warst an seinem Lager, Sternfinder.“
„Es sind zu viele Ärzte um ihn – Wahrsager, Traumdeuter, Zauberpriester, sogar Schamanen mit ihrem Tamtam.“
„Hilft gar nichts?“
„Nein.“
„Die Menscheneule, die den Zauber bewirkte, muss ihn auch aufheben!“
„Sie weigert sich.“
In die Würdenträger kam Bewegung. Der Übeltäter wurde verflucht. „Wenn ich den in die Finger kriege!“, drohte Atlixca, Herr des Richterhauses. „Seinetwegen warte ich vergeblich auf den Marschbefehl!“ Dabei schielte er auf den Ixiptla, in dem er wohl vor allem einen Kriegsgott sah. Sollte dieser ihn ins Feld beordern? ‚Atlixca, ich befehle dir …‘ Der verwirrte Jadefisch begann zu lachen. Lag das an der Gesichtsbemalung? Er wollte die Menscheneule sehen.
Die Würdenträger blickten zu Boden. Das Gottesabbild lachte noch einmal. Wie war die Welt so heiter! Welch himmlischen Duft verströmte der Blumenstrauß, den Atlixca – oder wer war es gewesen? – ihm gespendet hatte! Solche große bunte Blüten! Oh, er verdiente, dafür die göttliche Musik zu vernehmen. Welche Flöte sollte er benutzen? Er hatte in jeder Hand eine. Der Priester-Weise nahm ihm eine Flöte ab und führte ihn hinaus.
Auch die Würdenträger gingen. Der Priester-Weise hatte vor, sich seinen Büchern zu widmen, aber der Oberpriester hielt ihn zurück. „Der Ixiptla macht mir Sorgen.“
„Weswegen?“
„Erschien es dir nicht auch, als habe er den Rausch nur vorgetäuscht? Zu lange lauschte er mit unbewegter Miene, zu plötzlich sprang er wie ein Clown von seinem Sitz. Er foppt uns, Sternfinder.“
„Durch ihn spricht Tezcatlipoca.“
„Ja! Tezcatlipoca lässt ihn seine göttlichen Sandalen in ein Schmutzloch setzen. Ins Schatzhaus schickt Er ihn mit angesteckter Pfeife! Jetzt sendet Er ihn zu der Menscheneule – und wer weiß, zu welchem Zweck!“
„Er, Der Seinen Spott Mit Uns Treibt.”
„Der Ixiptla soll nicht die dunkle, sondern die helle Seite des Tezcatlipoca verkörpern. Freundlich, gefällig soll er sein – ein Gott, dem wir vertrauen können, der Regeln folgt, der tut, was nützt.“ Der Oberpriester seufzte. „Sternfinder, du allein kannst ihn dazu bewegen.“
„Wie werde ich dem Gott gebieten?!“
„Verstärke die Wirkung der Götterfarbe. Gib mehr von den zermahlenen Samen der weißen Acker-Winde hinein.“
Darum also war der Oberpriester heute so gesprächig. Der Priester-Weise wiegte das Haupt. „Wenn er zu viel davon bekommt, dann wird er einer Gliederpuppe gleichen. Er wird dumm und stumpf, als würde seine Götterfarbe nicht mehr leuchten.”
„Das darf natürlich nicht geschehen. Normalerweise macht die Acker-Winde sanft. Sie hat noch jedem Abbild geholfen, seine Bürde zu tragen. Finde die beste Dosierung heraus! Keineswegs darf der Ixiptla unser Ritual verletzen.”
Der Oberpriester kannte sich selbst sehr gut mit den heiligen Pflanzen aus. Er würde die Farbe alleine bereiten, fiele es ihm nicht so schwer, die Samen abzuzählen. Seine Augen veränderten sich. Er konnte immer weiter in die Ferne sehen, indes die kleinen Dinge nahe bei ihm mehr und mehr verschwammen. Er brauchte also den Priester-Weisen.
„Ich werde nichts tun, was ihm schadet“, bekräftigte dieser.
„Du bist es, der ihn durch sein Jahr geleitet. Bedenke, dass ihm noch mehr Bedeutung zuwächst, falls der Herrscher nicht gesundet.“
Der Priester-Weise antwortete vage. Er wollte nicht den