Die beiden Texte von Zambrano und Paz sind nicht zuletzt Symbole für die essayistische Sicht auf die Kultur als ,erste Natur‘ des Menschen. María Zambranos biografisch reale Waldspaziergänge, die sich im Schreiben der Waldlichtungen spiegeln, beschreiben Wege durch das wahre Habitat des Menschen – den Wald von Zeichen, in dem der Mensch selbst als unwirkliche, nicht zu betretende Lichtung erscheint (wer Wald ist, kann die Lichtung nicht betreten). Und Octavio Paz’ ebenso historisch wirkliches Schlendern durch das Tempelareal von Galta ist Weg durch die halb verfallenen Schriftarchitekturen und Symbolkonstruktionen, die mit der Natur verschmelzen, von ihr verschluckt und überwuchert werden: Der Mensch, der darin haust, wird selbst zur Schriftruine, die niemals ein Ganzes beschreibt, sondern bröckelt, immer wieder ausgebessert und schließlich ganz verschluckt wird: mächtige Bilder für die Zivilisation als Natur des Menschen und ihre ständige Bedrohung der Auslöschung durch eine Gegenkraft, die schon im Mythos Babylon aufscheint. Das ,Essayistische‘ selbst hat Anteil an diesem Mythos. Montaignes Turm, Borges’ labyrinthische Bibliothek von Babel, Octavio Paz’ halb verfallene chimärische Tempelarchitektur von Galta – all diese Metaphern sind Aspekte des Mythos von der Ambivalenz des Menschen zwischen der Erhabenheit und dem Wahn, zwischen der Anstrengung des Aufbaus und dem ,Sic transit gloria mundi‘; nicht zuletzt des katastrophistischen Mythos der fatalen Verstrickung in die eigenen Schöpfungen. Der Wald der Zeichen und die Wüste der Signifikation reihen sich in die Metaphernwelt des mythischen Babylon ein, die, mit den Worten des Kunsthistorikers Sébastien Allard, das „allgegenwärtige Spannungsverhältnis zwischen Dekonstruktion und (Re)konstruktion“ beschreiben.216 Wald und Wüste, wie sie in den Texten von Zambrano und Paz erscheinen, übertragen den Mythos Babylon von der Architektur auf die Natur, sodass von ,erster‘ oder ,zweiter‘ Natur im Sinne Adornos überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann. Das ,Essayistische‘ ist nicht zuletzt ein Weg, diese Natur zwischen Selbstbehauptung und Entmächtigung in sich selbst zu ergründen, dem Mythos der Zivilisation in sich selbst nachzuspüren.
Für Montaignes Zeitgenossen war das Projekt der Erkundung der eigenen Subjektivität ein Novum. Die Faszination dafür brachte ihm zwar zahllose Bewunderer ein – allein von 1580 bis 1669 wurden die Essais in 37 Auflagen gedruckt –, doch selbst diese verstanden ihn im Grunde nicht. Wie Pierre Villey schreibt, war Montaigne seiner Zeit um 150 Jahre voraus. Erst im 18. Jh. hätte sein Denken wirklich erblühen können.217 Folgten die ersten beiden Bände der Essais noch einem breiteren Geschmack, zeigten sich selbst Freunde Montaignes vom dritten Band irritiert. Einig waren sich selbst wohlmeinende Leser in der Zurückweisung der ,peinture du moi‘, der exzessiven Präsenz des ,Ich‘ in den Texten, die in den späteren Essays ein immer größeres Ausmaß annimmt. Gewohnt und ,erlaubt‘ war die Darstellung von Handlungen öffentlicher Personen, die Teil der Geschichte waren und zu einer staatsmännischen Bildung beitragen konnten. Die Darstellung eines privaten ,Ich‘ hingegen war ein regelrechter Skandal, und so sah sich Montaigne mit dem Vorwurf der Eitelkeit konfrontiert, der „vanité de se mettre en scène“; die Essais waren für viele „un livre puéril, vain, pervers“.218 Dabei spielten nicht zuletzt auch religiöse Gründe eine Rolle, denn der Entwurf des eigenen ,Ich‘ im Duktus des Müßiggängers konnte als Abkehr von Gott aufgefasst und in die Nähe der Todsünden gerückt werden. Vor allem aber war es schlicht unschicklich.
Freilich war Montaigne innerhalb der christlichen Welt nicht der Erste, der über sich selbst schrieb. Eines der prominentesten Beispiele für die Darstellung eines ,Ich‘ sind wohl die Confessiones des Augustinus. Doch besitzt das ,Ich‘ hier einen ganz anderen Status: Augustinus spricht von seinen Fehlern, um sich Gott zu unterwerfen; Selbsterkenntnis ist hier die Erkenntnis der Erlösbarkeit durch Gott. Daher gibt Augustinus nur wieder, was in Zusammenhang mit dem Gnadenereignis steht. Hugo Friedrich spricht von einer teleologischen Praxis, bei der es um ein schrittweises Ins-Reine-Kommen mit Gott und dem Heilsplan geht.219 Montaigne hingegen sucht kein Gnadenereignis. Er spricht über seine Wirkung auf Frauen, seine Gallensteine und das Schuheschnüren. Friedrich schreibt, die „Essais sind ein tagebuchähnlicher Monolog, bei dem man nie genau weiß, wen sich der Verfasser, außer sich selbst, als Mithörer denkt; Gott ist es jedenfalls nicht“.220 Obwohl Montaigne in seinen Ideen katholisch konservativ bleibt, zieht er auch den Zorn der Kirche auf sich, sodass seine Essias 1676 auf den vatikanischen Index verbotener Bücher gesetzt werden. Dabei dürfte wohl seine antidogmatische, radikal skeptische und für seine Zeit damit in gewisser Weise rebellische Grundhaltung eine Rolle gespielt haben, die in Verbindung mit einer rein weltlich ausgerichteten Moral die Autoritäten auf den Plan gerufen hatte. Bernhard Teuber liest die Essais als Auseinandersetzung mit den Dispositiven der Macht, in der das Subjekt sich selbst entmächtigt, um aus einer Position der ,faiblesse‘ heraus dieser Macht immer wieder trickreich auszuweichen. Dies führe letztlich zu einer subtilen Subversion der Macht selbst: „Bei Montaigne jedenfalls lassen sich die Figurationen der Entmächtigung durchwegs lesen als Defigurationen der Macht.“221 Das grundlegende Sprachspiel dieser Operation ist die Verteidigungsrede oder Apologie als „rhetorische Inszenierungen der Machtlosigkeit“.222
Wie sich zeigt, ist ,der Essay‘ als apologetischer Diskurs selbst der Apologie bedürftig; vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass seine Verteidigung gegen die Anfeindungen der Wissenschaft oft ihrerseits essayistisch ausfällt. Verteidigen jedenfalls muss sich ,der Essay‘ nicht nur gegen den Vorwurf einer eitlen ,peinture du moi‘; er ist auch schon immer Ziel der Kritik vonseiten des Vernunftmächtigen. Schon unter den Gelehrten seiner Zeit stand er unter Anklage fehlender Wissenschaftlichkeit und Methode. Ein knappes Jahrhundert später ist es dann Nicolas Malebranche, der in seiner Recherche de la vérité (1675) die gängigen Vorwürfe gegen Montaigne pointiert formuliert: Er habe mit den Essais eine Sprache geschaffen, die Vernunftpositionen unterlaufe.223 Ohne an dieser Stelle auf die lange Reihe von Kritikern einzugehen: Der Vorwurf bleibt bestehen, sodass Adorno in seiner berühmten Apologie des Essays (Der Essay als Form) von 1958 noch dagegen mobil macht: Dem Positivismus nach solle, so Adorno, jede Darstellung des Ausdrucks eine Objektivität gefährden, die „nach Abzug des Subjekts herausspränge“. Die Reinheit der Sache selbst hoffe man durch ihre Indifferenz gegenüber dem Ausdruck gewährleisten zu können. Damit läuft der szientifische Geist jedoch Gefahr, zum „stur dogmatischen [sic]“ zu verkommen, schreibt Adorno, um dann noch einmal mächtig gegen die Verächter des Essays auszuholen: „Das unverantwortlich geschluderte Wort wähnt, die Verantwortlichkeit in der Sache zu belegen, und die Reflexion über Geistiges wird zum Privileg des Geistlosen.“224
Adorno plädiert keineswegs für eine Wiederzusammenführung von Wissenschaft und Kunst. Im Verlauf einer Entmythologisierung seien die beiden auseinandergedriftet; eine Einheit sei weder wiederherstellbar noch erwünscht. Dennoch sei der Gegensatz auch nicht zu hypostasieren: Wer jegliche Vermischung ablehne, sorge für eine „nach Sparten organisierte Kultur“, die den Verzicht auf „die ganze Wahrheit“ in sich berge: „Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem Betrieb einer veritablen, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein sind, tragen die Spur repressiver Ordnung.“225
In