Der szientistische Zugang übergeht ganz offensichtlich den wissenschaftlichen Zugang von AristotelesAristoteles, der im VII. Buch seiner MetaphysikMetaphysik darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Ganze (οὐσία) mehr ist als die Summe seiner Teile.8 Der SzientismusSzientismus geht jedoch nicht auf das Ganze, in seiner analysierenden und zerlegenden MethodeMethode dringt er nie bis zur Qualität des Ganzen durch, sondern bleibt beim bloss Quantitativen der Elemente stehen. Denn die NaturwissenschaftNaturwissenschaft beginnt mit der Beschreibung, ordnet die beschriebenen Erscheinungen ein und abstrahiert die in ihnen vorherrschenden Gesetzmässigkeiten. Das ExperimentExperiment dient dabei zur VerifizierungVerifizierung der abstrahierten NaturgesetzeNaturgesetze. Dabei verkennt der Szientismus jedoch, dass ohne vorhergehende, apriorische Zwecksetzung keine Experimente durchgeführt werden und keine Messdaten zustande kommen können. Denn die Messgeräte der naturwissenschaftlichen Experimente sind selbst nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Erfahrung, vielmehr müssen die Kriterien für ein gelungenes Experiment vorweg als gültig gesetzt werden. Der Szientismus baut auf der Anerkennung der jüngsten naturwissenschaftlichen Lehren auf, setzt sie als gültig und kommt von da her zu einer nachträglichen Interpretation der Forschungsmethoden und -ergebnisse. Dass der Szientismus das WahrheitsproblemWahrheitsproblem damit durch den Glauben an die jeweils aktuellsten Methoden und Theorien als gelöst betrachtet, ist offenkundig. Er deduziert die Grundlagen aus den als gültig geglaubten bzw. unterstellten Ergebnissen, und nicht die Grundlagen aus den Ergebnissen.
Was aber, wenn ein Seiendes kein Gegenstand der NaturwissenschaftenNaturwissenschaften ist und auch nicht dazu gemacht werden kann? Wie werden im Rahmen eines immanenten oder szientistischen Weltbildes beispielsweise die objektiven WerteWerte oder die MenschenwürdeMenschenwürde verstanden? Konsequenterweise gibt es in einem szientistisch geprägten WeltbildWeltbild keine objektiven Werte, sind die Werte doch gerade kein Gegenstand der Naturwissenschaften. „Die Naturwissenschaften verzichten auf die Frage nach dem SinnSinn, sie haben ihn als eine überflüssige Kategorie aus ihrem Weltbild aussortiert.“9 Objektive Geltung haben in den Naturwissenschaften nur Fakten. Was es gibt, sind nur subjektive Bewertungen, und die lassen sich aus den Anlagen, den Erfahrungen und den Lebensbedingungen des einzelnen Menschen erklären.
Das Eintreten für die MenschenwürdeMenschenwürde und die MenschenrechteMenschenrechte ist sicherlich einer der positivsten Züge unserer Zeit. Diese verlieren aber ihren SinnSinn, wenn es keine objektiven WerteWerte gibt, wenn der Wert eines Menschen immer nur der Wert für ihn selbst ist. Und wenn die Aufklärung in der Abschaffung der Pflichten eine Befreiung gesehen hat und noch immer sieht, dann wird dabei übersehen, dass es ohne Pflichten auch keine Rechte gibt, denn das Recht einer PersonPerson einer anderen gegenüber ist ja nichts anderes als eine Pflicht der letzteren Person der ersteren gegenüber.10 Das aber wird nur allzu gerne ausgeblendet!
Die immanente WeltanschauungWeltanschauung ist offensichtlich keine Frucht echt wissenschaftlicher Erkenntnisse und der SzientismusSzientismus allenfalls ein Programm für weitere Forschungen. Mit seinem methodischen Zugang und seinen wissenschaftstheoretischen Prinzipien verfehlt der Szientismus aber gerade das, wofür der MenschMensch eigentlich und ursprünglich in die Welt des Wissens hinausgetreten ist, nämlich die grossen Fragen des menschlichen Daseins zu beantworten. Gerade diese Aufgabe aber haben die NaturwissenschaftenNaturwissenschaften bislang nicht erfüllt, ja können sie von ihrem methodischen Zugang her auch prinzipiell nicht erfüllen. Denn wie soll der Mensch im Rahmen einer immanenten Weltanschauung in befriedigender Weise verstanden werden, wenn er nur ein Produkt der biologischen und kulturellen EvolutionEvolution ist, dessen WesenWesen bestimmt ist durch seine biologischen ErbanlagenErbanlagen und sein kulturelles LebensmilieuLebensmilieu? Wie, wenn die Zukunft des Menschen sein TodTod ist, er ganz der empirischen NaturNatur angehört und keinerlei Anteil an einer Natur hat, die der VergänglichkeitVergänglichkeit enthoben ist? Dessen Leben wohl ein Ende, aber kein ZielZiel und keinen SinnSinn hat, der sich seine Ziele vielmehr immer selbst setzen und über den Sinn selbst entscheiden muss, wie Jean-Paul SartreSartreJean-Paul (1905–1980) in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts behauptet hat11, für den der Mensch zur Hoffnungslosigkeit verurteilt ist, weil alle menschlichen Tätigkeiten im Grunde äquivalent sind?
In einer rein immanenten Weltsicht hat auch GottGott keinen Platz, denn die Welt gilt nach diesem Denkmodell in Verbindung mit den neuesten (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht als SchöpfungSchöpfung eines liebenden Gottes, sondern als Ergebnis eines Urknalls, das sich durch Mutation und SelektionMutation und Selektion immer weiter und immer höher entwickelt. Die radikalen Konsequenzen der Verabschiedung oder besser: der Abschaffung Gottes hat Friedrich NietzscheNietzscheFriedrich (1844–1900) deutlich gesehen und in der Geschichte vom tollen Menschen auf eindrückliche Weise geschildert:
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche GottGott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle MenschMensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!‘ – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘12
Nietzsches Versuch, die mit dem Tode Gottes eintretende SinnlosigkeitSinnlosigkeit zu überwinden, führte ihn in Also sprach Zarathustra zum WillenWillen zur Macht und zum Übermenschen.13 Doch führte auch sein Aufruf, die Menschen sollten selbst WerteWerte in die Dinge legen und ihnen SinnSinn schaffen, nicht über den NihilismusNihilismus hinaus.14
2 SinnSinn und TranszendenzTranszendenz
Wie NietzscheNietzscheFriedrich und viele andere aufmerksame