Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule. Doris Kocher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Kocher
Издательство: Bookwire
Серия: Studies in English Language Teaching /Augsburger Studien zur Englischdidaktik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301691
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overview to be able to see the ‘big picture’ to help them locate what they learn“ (Ebd., 44). Allerdings ist zu beachten, dass ein Storyline-Projekt in erster Linie von den diversen unvorhersehbaren Ereignissen und Überraschungsmomenten lebt: “This is a powerful motivating factor that keeps the ‘line’ fresh, and helps to ensure continuing interest and enthusiasm“ (Bell/Harkness 2006, 35). Es sollte also auf eine gute Balance zwischen Überblick/Mitbestimmung und Überraschung/Spannung geachtet werden.

      Zu den Hauptaufgaben der Lehrenden gehört also, eine Geschichte so vorzustrukturieren, dass sie zu einer Kette von Fragestellungen und kreativen Problemlöseverfahren anregt sowie zahlreiche Gelegenheiten für Interaktionen und das Trainieren verschiedener Fertigkeiten bietet (Bell 1995a). Somit gelten die key questions als Grundgerüst für sämtliche Aktivitäten innerhalb eines Storyline-Projekts und als Steuerungsmechanismus im Sinne von structured freedom: “Thanks to the story, you ask the questions in a natural way. The story dresses the questions“ (Vos 1992, 15). Key questions können im Unterricht gegebenenfalls noch weiter ausdifferenziert und auch als Impuls (Aussage/Aufforderung) geäußert werden: “Imagine you meet ...“ oder “Let’s see how ...“.

      Gute Schlüsselfragen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei den heterogenen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ansetzen, eine Vielzahl von kreativen und auch innovativen Lösungen zulassen, divergentes Denken fördern sowie zahlreiche sinnstiftende Aufgabenstellungen und neue, herausfordernde Fragen und Aktivitäten nach sich ziehen. Durch die Tatsache, dass nicht fremdes, sondern eigenes (also bekanntes) Wissen und eigene Fragestellungen im Vordergrund stehen, fühlen sich die Lernenden sicher, akzeptiert und ernstgenommen. Selbstvertrauen, emotionales Engagement und Lernbereitschaft werden somit positiv beeinflusst.

      Arbeitsbezogene Fragen wie “What do you think should be done next?“ können darüber hinaus auch als Strukturhilfe fungieren und die Lehrkraft von organisatorischen Aufgaben entlasten. Ferner erkennen die Lernenden Sinn und Funktion ihrer Aktivitäten besser, wenn sie diese nicht als von außen auferlegt erfahren: “Interviews are conducted or letters are written because of a need not because the teacher tells the children (...) to do so. These functional tasks engender feelings of ownership and responsibility“ (Frame 1992, 64). Das Geheimnis scheint folglich darin zu liegen, zum richtigen Zeitpunkt zu erkennen, wann Anleitungen und Unterstützung erforderlich sind, denn nur dann kann das collaborative storymaking für beide Seiten zu einem positiven Erlebnis werden, wenn die Lernenden ganz bei der Sache sind.

      Die fiktive Rahmenhandlung eines Storyline-Projekts bietet viele Möglichkeiten für kontextualisierte Fragen, darüber hinaus stellte Erik Vos (1992) in Kooperation mit Barbara Frame ein umfassendes Repertoire an allgemeinen Frageverfahren zusammen, die flexibel und themenunabhängig eingesetzt werden können (z.B. cliffhanger). Key questions können meist nicht auf Anhieb umfassend beantwortet werden. Deshalb muss auch stets eine key silence eingeplant werden. Ein Storyline-Projekt ist nur dann für beide Seiten gewinnbringend, wenn die Lehrkraft die Entscheidungen der Lernenden ernstnimmt, ihre Arbeiten respektiert und Geduld gegenüber zu vollziehenden Lernprozessen aufzeigt (mutual respect). Wenn Lehrende echte Fragen stellen, geben sie einen Teil der Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler ab, indem sie ihnen auftragen, selbstständig Hypothesen zu formulieren und entsprechend plausible Antworten und Lösungswege zu finden. Die Lernenden beginnen somit, ihr Lernen zunehmend lehrerunabhängig zu gestalten, während die Lehrkraft mit Hilfe von topic plan und key questions die Lernenden sicher zu führen und zu begleiten vermag: “The teacher holds the ‘line’ while the pupils tell the ‘story’“ (Harkness 2007, 20). Ob und inwiefern die aufgeführten Aspekte und Ziele auch beim fremdsprachlichen Lernen realisiert werden können, sollen meine Untersuchungen zeigen (vgl. Teil B).

      2.3.3 Merkmale: Das Storyline-Klassenzimmer

      Wer zum ersten Mal ein Klassenzimmer betritt, in dem gerade ein Storyline-Projekt durchgeführt wird, ist vermutlich – wie ich bei Schulbesuchen in Schottland, Dänemark oder Island – überrascht, dass in üblicherweise funktionell gestalteten Schulräumen so viel Kreativität, Lerneifer und Lebendigkeit entstehen können. Eine Storyline-Lernwerkstatt unterscheidet sich dabei vom herkömmlichen Klassenzimmer durch einige wesentliche Dinge: Collagen, Wandfries, Poster mit sprachlichen Hilfen (wordbanks), Medien bzw. Arbeitsmaterialien, Arbeitsformen und Sitzordnung.

      2.3.3.1 Collagen und Figuren

      Jedes Märchen, jeder Roman und jede beliebige Geschichte beginnt in der Regel mit der Einführung und Charakterisierung der beteiligten Hauptfigur(en) und der groben Skizzierung des situativen Kontexts. Diese Konvention wird auch bei Storyline-Projekten berücksichtigt: Gleich zu Beginn der story werden ganz im Sinne des ganzheitlichen und handlungsorientierten Lernens die jeweiligen Charaktere sowie die räumlich-zeitliche Umgebung (setting) in Form von zwei- oder dreidimensionalen Collagen und Gebilden konkret hergestellt. Je nach Art der Geschichte handelt es sich hierbei um eine einzelne Figur (z.B. eine Fee), um wenige Personen (z.B. eine Flüchtlingsfamilie) oder um eine Vielzahl von unterschiedlichen Charakteren (z.B. eine Reisegruppe), die von den Schülerinnen und Schülern mit verschiedenen Materialien wie Papier, Stoff, Wolle, Watte usw. gebastelt werden. Beispielhafte Vorgaben (im Sinne von modelling)1 – wie Hinweise auf Größenverhältnisse – sind insofern hilfreich, als ein Hund nicht größer als ein Pferd sein sollte.

      Hinsichtlich der Darstellungstechniken sind keine Grenzen gesetzt, allerdings sind altersgemäße Fähigkeiten, Fertigkeiten und Vorlieben in der Planung zu berücksichtigen. Bei älteren Lernenden können auch Marionetten, Stabpuppen und/oder abstrakte Gestalten angefertigt werden. Eine weitere Variante für ältere Schülerinnen und Schüler besteht darin, keine konkreten Figuren zu basteln, sondern diese in Form von diversen Unterlagen, und zwar möglichst mit Foto oder Zeichnung, dar- bzw. vorzustellen: Schülerausweis, Reisepass, Lebenslauf, Bewerbungsschreiben, Personalakte usw. Wichtig ist, dass die Figuren möglichst flexibel an der Wand befestigt werden, so dass sie auch für Rollenspiele verwendet werden können. Diese selbst gemachten Collagefiguren fördern das multisensorische Lernen, dienen als Visualisierungshilfe und bieten als konkrete Handlungsobjekte vielerlei Anlässe zur mitteilungsbezogenen und realitätsnahen Kommunikation. Des Weiteren können durch die Objekte auch solche Informationen vermittelt werden, die von den Lernenden (noch) nicht in der Fremdsprache formuliert werden können.

      Vor oder nach dem Herstellen der Figuren wird – abhängig vom Verlauf der jeweiligen Geschichte – die räumliche Umgebung konkretisiert und visuell dargestellt. Je nach setting kann es sich hierbei um ein Haus handeln, dessen Räume von den einzelnen Gruppen individuell ausgestaltet werden, oder um ein mittelalterliches Schloss, einen Straßenzug mit mehreren Gebäuden, eine afrikanische Oase, eine tropische Insel, eine Höhle, ein Zirkusareal, eine Mondlandschaft oder auch das Innenleben eines Schiffes bzw. eines Notarztwagens.

      Nach und nach erhalten die erstellten Figuren Namen, Biographien und individuelle Persönlichkeitsmerkmale, also eine unverwechselbare Identität. Sie treten (je nach Geschichte) in Freundschafts-, Nachbarschafts- oder Verwandtschaftsbeziehungen zueinander, so dass sich verschiedene Rollen weiterentwickeln können. Es werden fiktive Telefonate geführt, Briefe ausgetauscht, Besuche vereinbart oder gemeinsame Unternehmungen geplant; viele Einzelheiten entstehen auch spontan aus der Situation heraus. Erfahrungsgemäß identifizieren sich die Schülerinnen und Schüler im Laufe der Zeit immer mehr mit ihren Lernprodukten, auch wenn (oder vielleicht auch gerade weil) die Figur von den Charakterzügen der eigenen Person abweicht. Das ownership principle veranlasst die Lernenden, kreativ, engagiert und eigenverantwortlich zu arbeiten. Im Rahmen der beschriebenen Arbeitsprozesse werden zudem ganz unterschiedliche Intelligenzen (vgl. Gardner 1994; 2002; 2007) angesprochen und gefördert.

      Während die Schülerinnen und Schüler ihre Figuren und Landschaften basteln, recherchieren sie auch gleichzeitig, ob ihre Konstrukte und Ideen stimmig sind: Wie kleideten sich mittelalterliche Mägde und Knechte? Wie kleiden sich Maoris oder Beduinen? Wichtig ist dabei stets auch die Frage nach den Gründen für ein spezifisches Bekleidungsverhalten. Im zuletzt genannten Fall studieren