Eine produktive Lernumgebung – darüber herrscht heute Konsens – sollte nicht nur lernerzentriert, sondern auch lernorientiert1 sein. Dieser Anspruch bringt für alle Beteiligten zwangsläufig neue Aufgaben und Verpflichtungen mit sich: “The teachers have to learn when and how ‘to let go’ (...) and how best to support their learners in their learning. The learners on their part have to learn where and how ‘to take hold’ and to be aware of why and how they learn. For both parts we are talking about a never-ending process“ (Dam 2000, 49). In diesem Sinne lässt sich der Storyline-Ansatz auf der Skala zwischen lehrerzentriertem und autonomem Unterricht als Zwischenstation einordnen:2 Storyline vermittelt den mit offenen Arbeitsweisen noch unerfahrenen Lehrerinnen und Lehrern Halt, Orientierung und Sicherheit, bei zunehmender Storyline-Erfahrung aller am Unterricht Beteiligten kann dieser zunehmend offener, schülergesteuerter und somit autonomer werden. Je erfahrener also eine Lehrkraft im Umgang mit Storyline ist, desto freizügiger wird sie den Unterricht gestalten (lassen). Je weniger Hilfen eine Lerngruppe benötigt, desto eigenverantwortlicher wird sie arbeiten können.
Das Storyline-Konzept gibt einer Unterrichtseinheit schließlich eine logische Struktur und inhaltliche Kohärenz, so dass diese nicht wie üblich als Abfolge von unverbundenen Einzelstunden, sondern als gemeinsam gestaltete „Geschichte“ mit einem nachvollziehbaren roten Faden erlebt wird. Die äußere Gliederung eines beliebigen Themas und die logische Struktur eines Storyline-Projekts wird durch Abbildung 2 veranschaulicht.
Aufbau eines beliebigen Storyline-Projekts (Bell/Harkness 2006, 9)
Zur Ausrüstung für ein gewinnbringendes Storyline-Projekt, das nach der ursprünglichen Konzeption für den muttersprachlichen Unterricht an schottischen Grundschulen – je nach Thema und Alter der Lerngruppe – circa drei bis zwölf Wochen dauern kann, in denen meist täglich in irgendeiner Form an dem Thema gearbeitet wird, gehört demnach in erster Linie eine spannende und inspirierende Geschichte, also eine sinnstiftende und bedeutungsvolle Rahmenhandlung sowie herausfordernde Schlüsselfragen (key questions), die die Entwicklung der Geschichte und somit auch die Denk- und Lernprozesse vorantreiben. Da Geschichten und Schlüsselfragen die Basis bzw. die stützenden Pfeiler des Storyline Approach darstellen, sollen diese beiden charakteristischen Elemente nachfolgend ausführlicher erörtert und gleichzeitig dazu verwendet werden, weitere Prinzipien des Konzepts herauszuarbeiten.
2.3.2.1 Geschichten und deren Funktionen
Babys, die Geschichten hören, entwickeln sich angeblich besser als andere. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Vorlesen den Aufbau der kindlichen Gehirnmasse und die Vernetzung der Synapsen stimuliert. Andere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes gefördert wird und so auch die späteren schulischen Leistungen dieser Kinder positiv beeinflusst werden. Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, so zeigen Studien, könnten besser stillsitzen und sich besser konzentrieren (Hesse 2015). Solche und ähnliche Meldungen werden gerne hinzugezogen, um die Bedeutung des Erzählens und Vorlesens für die kindliche Entwicklung hervorzuheben. Dabei interessieren sich die meisten Kinder schon von Natur aus für Geschichten: “Children enjoy listening to stories (...) and are familiar with narrative conventions. For example, as soon as they hear the formula Once upon a time ... they can make predictions about what to expect next“ (Ellis/Brewster 2002, 1). Bredella (2012, 18) behauptet: „Erzählstrukturen und Schemata von Geschichten [müssen wir] nicht erst ausdrücklich erlernen (...). Sie scheinen uns angeboren zu sein“.
Kinder brauchen Märchen heißt eine viel zitierte Veröffentlichung des Psychologen Bruno Bettelheim (1997), aber auch Erwachsene brauchen offensichtlich Geschichten als Orientierungshilfe im Alltag und „in der Welt“ (Bredella 2012, 11), denn sie stellen „Ordnung“ her (Ebd., 17). Geschichten sind ein traditionelles Mittel, um Wissen, Erfahrungen und Ansichten, also Kultur im weitesten Sinne, von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weiterzugeben bzw. zu empfangen: „Sie interpretieren die Geschichte von Völkern und Kulturen“ (Hesse 2015, 6). Dies geschieht zum Beispiel in Form von Sagen, Mythen, Legenden, Fabeln, Märchen, Gleichnissen und Metaphern (vgl. Kapitel 3.3.2.3).
In früheren Zeiten gab es auch in unserem Kulturraum keinerlei Wissen, das außerhalb des Gedächtnisses gespeichert war. Erst später begannen unsere Vorfahren damit, ihr Wissen und ihre Erfahrungen in Form von Symbolen und Bildern festzuhalten und weiterzugeben. Noch heute kann man diese beeindruckenden prähistorischen Dokumentationen beispielsweise in Form von Höhlenmalereien bestaunen. Heute dagegen erfolgt die Wissensvermittlung – zumindest in den Industrieländern – vorrangig über Print- und Bildschirmmedien und die mündliche Überlieferung verliert an Bedeutung. Dennoch wird auch in den hoch technisierten Ländern erzählt, wobei meist weniger der Inhalt (im Sinne der kulturellen Überlieferung) im Vordergrund steht, sondern das Ritual für soziale Zusammengehörigkeit. In diesem Sinne ist das Austauschen von Erfahrungen bzw. das Erzählen von Geschichten universal und zeitlos (Wajnryb 2003), denn auch heute gilt: „Was den Menschen umtreibt, sind nicht Fakten und Daten, sondern Gefühle, Geschichten und vor allem andere Menschen“ (Spitzer 2002, 160).
Bredella (2012) bezeichnet Geschichten „als eine grundsätzliche Erkenntnisform [, weil sie] Handlungen erhellen und nachvollziehbar machen“ (Ebd., 32). Bruner (1996) spricht von narrativer Intelligenz und führt neun “universals of narrative realities“ auf (Ebd., 133-147).1 Geschichten haben also noch immer „Hochkonjunktur“ (Haß 2013, 5), und somit ist es nicht weiter verwunderlich, „dass unser Alltag von narrativen Formen medial gleichsam durchdrungen ist“ (Ebd.). Auch Unternehmer- und Marketingkreise haben das Potenzial von Geschichten längst erkannt (vgl. Fuchs 2013).
Welche konkreten Gründe sprechen für die Einbindung von Geschichten in den (fremdsprachlichen) Unterricht? In erster Linie geben Geschichten den Lerninhalten eine nachvollziehbare Struktur, denn sie bestehen in der Regel aus drei Grundelementen: diversen Charakteren bzw. Akteuren (Menschen, Tiere, Pflanzen oder Phantasiegestalten), einem Zeitrahmen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und einem oder mehreren Orten (setting). Ferner enthalten sie einen roten Faden mit einer logischen Abfolge von Ereignissen: Es gibt einen Anfang, eine zu bewältigende Problemsituation bzw. ein Überraschungsmoment (incident) und ein Ende. Geschichten stellen somit einen Mikrokosmos, also einen überschaubaren Kontext zur Verfügung und sorgen für die Situiertheit der Lerninhalte und aller auszuführenden Aktivitäten.
Die narrative Struktur erleichtert jedoch nicht nur das Verstehen, sondern fördert durch die narrative Verankerung von Einzelaspekten auch das Behalten und Abrufen von Wissen. Außerdem bewirkt der emotionale Gehalt einer Geschichte eine starke Beteiligung der Lernenden, was sich zusätzlich positiv auf die Behaltens- und Verarbeitungsleistungen auswirken kann: “Think of how a good movie or novel makes aspects of the world engaging“, betont Kieran Egan (2003, 3), Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor der Imaginative Education Research Group (IERG) an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada, und spricht sich für ein “humanizing the content“ aus (Ebd.). Statt des isolierten Einübens von skills und sub-skills soll vielmehr die Imagination der Lernenden im Mittelpunkt des Unterrichts stehen und dabei vielerlei Anknüpfungspunkte für individuelle Lernprozesse anbieten.
Davon abgesehen sind Fiktionen und vorgetäuschte Wirklichkeiten auch insofern von Bedeutung, als sie kreatives Handeln außerhalb der Regeln der Logik und der Dynamik der eigenen sozialen Systeme erlauben. Folglich leisten Geschichten auch in der heutigen Zeit einen wichtigen erzieherischen Beitrag: Sie fördern Vorstellungsvermögen und Phantasie, bieten Identifikationsangebote mit beliebigen Figuren, zeigen Verbindungen zur eigenen Lebenswelt auf und helfen diese zu erschließen, und sie geben Anleitungen und Möglichkeiten zum sozialen, ethischen und emotionalen Lernen, indem verschiedene Rollen und Aufgaben