Fazit: Geschichten liefern einen weiten authentischen Rahmen für ganzheitliches und kreatives, soziales und emotionales, inhalts- und problemorientiertes, aufgabenbasiertes und interdisziplinäres, sprachliches und kulturelles Lernen, und sie sprechen darüber hinaus multiple Intelligenzen an (vgl. Gardner 1994; 2002; 2007). Sie ermöglichen eine Vielzahl von authentischen Rede- und Schreibanlässen und fördern somit echte, mitteilungsbezogene Kommunikation. Meine Fallstudien in Teil B sollen zeigen, ob und inwiefern dies alles auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisierbar ist.
2.3.2.2 Key Questions und deren Funktionen
Wer bin ich? Warum gibt es Kriege? Gibt es einen Gott? Wie kommt es, dass die Sterne nachts leuchten und nicht herunter fallen? Kann man auf dem Mars leben? Solche oder ähnliche Fragen sind typisch für Kinder. Die Geschichte zeigt jedoch, dass auch erwachsene Menschen seit jeher Fragen an ihre bzw. in Bezug auf ihre Existenz und Umgebung stellen. Ohne diese Fragen würden die Geistes-, Human- und Naturwissenschaften vermutlich nicht existieren und sich auch nicht weiterentwickeln können.
Während Kleinkinder, sobald sie sprechen können, ihre Umgebung unermüdlich mit Fragen konfrontieren und unverzüglich befriedigende Antworten verlangen, verliert diese natürliche Art des Lernens mit Hilfe situativ verankerter Fragen im Laufe der Schulzeit leider mehr und mehr an Bedeutung: Fragen von Seiten der Lernenden werden aus Zeitgründen oft nicht oder nur oberflächlich berücksichtigt. Ferner kommt im Fremdsprachenunterricht der Aspekt der erwünschten sprachlichen Korrektheit häufig als erschwerender Faktor hinzu, der die Lernenden einschüchtert und im Laufe der Zeit verstummen lässt (vgl. Kapitel 4.3.2.1 und 4.4.2). Das schulische Frageverfahren ist darüber hinaus meist ein recht unnatürliches und im wahrsten Sinne ein fragwürdiges Unterfangen, das Vos (1992, 1) mit humorvollen Worten charakterisiert: “‘He who asks questions will be a wise man’. (...) It is an old saying. For nowadays we know, that she who asks questions will become wise too. Maybe even wiser. He or she, (...) teachers ask most of the questions. The children provide the answers. That is why a teacher is wiser than children“.
Im Rahmen der Storyline-Arbeit sind Fragen in Form der so genannten Schlüsselfragen (key questions) von essenzieller Bedeutung, denn sie dienen als zentrales, lernzielorientiertes Planungs- und Strukturierungsinstrument für ein gesamtes Unterrichtsprojekt und leiten die einzelnen Episoden und Abschnitte einer Geschichte ein. Key questions werden im Gegensatz zum üblichen Unterrichtsverfahren nicht in Form von Suggestivfragen (display questions) gestellt, um nachträglich die längst bekannte „richtige“ Antwort zu erhalten, die von der Klasse in einer Art Ratespiel zu liefern ist, sondern sie werden aus einem wirklichen Interesse heraus gestellt und fordern zu kreativen, breitgefächerten Lösungen, innovativen Ideen, plausiblen Hypothesen und zum stetigen Nachdenken, Recherchieren und Weiterfragen heraus. Sie haben somit für alle Beteiligten eine echte Fragefunktion (referential questions). Dabei geht es zunächst um ein “asking for experience“ (Ebd., 11) und weniger um ein “asking for knowledge“ (Ebd.).
Schülerinnen und Schüler besitzen oft einen ungeahnt umfangreichen Wissensschatz. Gerade deshalb ist es sinnvoll und gleichzeitig erforderlich, dass die persönlichen Erfahrungen konstant in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden, um eigene (und fremde) Wissenskonstruktionen bewusst zu machen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu reorganisieren. Typische enggefasste bzw. geschlossene Schulfragen im Stil von “Where exactly do gorillas live?“ oder “What did Viking ships look like?“, bei denen es um das detaillierte Abfragen bzw. Reproduzieren von Faktenwissen geht, animieren die Befragten meist eher zu schweigendem Schulterzucken als zu spontanen Äußerungen. Die offenen key questions bei Storyline dagegen (z.B. “Where do you think gorillas might want to live?“ oder “What do you think a Viking ship looked like?“) zielen verstärkt auf das Einbringen von persönlichen Erfahrungen, Vorwissen und Vorstellungen ab und regen die Lernenden zur aktiven Beteiligung, zum stetigen Reflektieren und fundierten Begründen an.
Ein wichtiges Prinzip des Storyline-Modells besteht darin, stets den Bezug vom Unterrichtsthema zur konkreten, heterogenen Lebenswirklichkeit der Lernenden herzustellen. Somit zählt es zu den Aufgaben der Lehrkraft, diese Verbindung immer wieder neu zu knüpfen, und zwar mit Hilfe von persönlichen Fragen wie “What would you do if ...?“ oder “How would you feel when ...?“. In diesem Sinne gibt es bei Storyline kein dualisierendes Denken mit den binären Kodes richtig/falsch, gut/schlecht und entweder/oder. Es gibt also niemals nur eine einzig richtige Lösung, aber auch keine komplett falschen oder unlogischen Antworten auf eine Frage, da die Lernenden ihre jeweils individuellen Vorstellungen und Wirklichkeitskonstruktionen äußern, die sich aus ihren spezifischen Erfahrungen und Wissensaneignungen (Interimswissen) speisen. Diese können durchaus konträr und ungewöhnlich sein und somit gerade deshalb zu stimmigen Begründungen und neuen, authentischen Fragen herausfordern, so dass zuerst formulierte Antworten unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt revidiert oder modifiziert werden (müssen). Doch zunächst werden alle Beiträge als eigene Wissenskonstruktionen (subjektive Theorien) anerkannt und als Ausgangspunkt für weitere Investigationen und Fragestellungen betrachtet.
Nicht die möglichst korrekte Reproduktion fremden Wissens ist also das Ziel der Storyline-Arbeit, sondern die Aufdeckung individuell bedeutsamer Wissenskonstruktionen und der persönlichen mentalen Modelle durch learning by discovery. Aus diesem Grund werden die Lernenden immer wieder dazu ermuntert, Fragen zu formulieren, ihre individuellen Vorstellungen und Ideen zu äußern sowie eigene Hypothesen aufzustellen, und zwar bevor sie sich an der Wirklichkeit orientieren und bevor sie mit den tatsächlichen Gegebenheiten konfrontiert werden. Das Prinzip lautet: “First you do the work yourself, then you compare it with reality. This is a consequence of the ‘structure before activity’-principle (...); children should be looking around with educated eyes“ (Vos 1991, 93).
Spätestens am Ende eines Storyline-Projekts haben die Lernenden in der Regel eine Liste mit echten, ungelösten Fragen zusammengestellt. Ihr Wissensdurst drängt sie, diese von geladenen Expertinnen und Experten beantwortet zu bekommen oder sie im Rahmen eines Unterrichtsgangs an den realen Gegebenheiten zu verifizieren: “What’s different from our farms and a real farm?“, “What’s better on our farms?“, “What could be improved on the real farm?“. Auf der Basis langjähriger Storyline-Erfahrung bewertet auch Björg Eiriksdóttir (2001) die Qualität dieser grundsätzlich anderen Vorgehensweise als äußerst positiv für die Lernenden: “I think this is so effective and the children are often so pleased when they realise that their model is right or even better than the real thing“ (Ebd., 149).
Um nachhaltiges Lernen mit hohem Transferwert zu gewährleisten, müssen auch thinking skills (Frame 2001; 2007), also verschiedene metakognitive Strategien entwickelt und gefördert werden, wie dies im Rahmen von Storyline-Projekten auf vielfältige Art und Weise geschieht: Die offenen Schlüsselfragen fördern das problemlösende und divergente Denken, das eigenständige und zielgerichtete Recherchieren sowie das hypothesengeleitete und kreative Experimentieren; sie unterstützen demzufolge die Lernenden beim Erwerb und bei der Strukturierung ihres Wissens und machen sie zudem neugierig für neue Fragestellungen und Lernbereiche im Sinne des lebenslangen Lernens.1
Key questions stellen für Lehrende immer eine Herausforderung dar: “The teacher knows what the questions are but cannot be certain exactly how the children will respond“ (Harkness/Håkonsson 2001, III). Gerade der Auftakt einer Geschichte zählt somit zu den besonders sensiblen Phasen innerhalb einer Storyline und das Stellen guter Fragen bedarf der Übung. Vos (1991) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass es nicht sinnvoll sei, eine Storyline durch einen informativen Einstieg (advance organiser) zu eröffnen: “It ruins the adventure“ (Ebd., 93). Frame (2001) dagegen behauptet mit Recht, dass dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss, sondern dass Lernprozesse sogar