Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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Bedingungen verwendet als in den so genannten Vollzentren, was entsprechende theoretische Konsequenzen für die Beschreibung ihrer Variation nach sich zieht.

      Einige der hier versammelten Beiträge gehen insofern über die strukturelle Beschreibung der Varianten hinaus, als sie ihre kognitive Repräsentation zusätzlich begrifflich zu fassen versuchen, so etwa als Perspektivenüberlagerung (Wyss) oder als freie, graduelle oder konditionierte Zweifelsfälle im Urteil der Sprecherinnen und Sprecher (Schmidlin). Wie schon frühere Studien (Scharloth 2005, Schmidlin 2011), so zeigen auch einige der hier vorliegenden Beiträge, dass selbst unter den Vollzentren, die von Ammon als gleichrangig betrachtet werden, eine sprachmarktbedingte Asymmetrie besteht, die gerade von Deutschlehrerinnen und -lehrern verinnerlicht zu werden scheint und ihre Korrekturpraxis dahingehend prägt, dass die (nicht-bundesdeutschen) Standard-Varianten primär als Normabweichungen gesehen werden. Es ist zu vermuten, dass, nicht zuletzt aus arbeitsökonomischen Gründen im Schulalltag, die Lehrkräfte sich für ihre Beurteilung eher auf subsistente Normen stützen denn auf Kodices, wo die standardsprachlichen Varianten durchaus thematisiert würden. Besonders hingewiesen sei an dieser Stelle auf Peters berechtigte Forderung, Spracheinstellungserhebungen mit Sprachwissenserhebungen zu koppeln. Da wir diese Forderungen im Hinblick auf zukünftige Studien, die die Einstellungen von Sprecherinnen und Sprechern gegenüber den Varianten des Standarddeutschen thematisieren, für wichtig halten, seien sie an dieser Stelle wiederholt:

      1 Die Bewertung von sprachlichen Varianten ist nicht nur Ausdruck der Spracheinstellungen, sondern immer auch Ausdruck der Sprachbewusstheit oder des Sprachwissens der bewertenden Person.

      2 Eine umfassende Interpretation einer Variantenbewertung kann nur dann gelingen, wenn nicht nur Daten zu den Spracheinstellungen, sondern auch zum individuellen Sprachwissen (oder der individuellen Sprachbewusstheit) der bewertenden Person vorliegen.

      3 Bei Untersuchungen zur Bewertung von Sprachvarianten sollte jeweils auch die Kenntnis der Variantenbedeutung kontrolliert werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Tatsache, dass Sprecherinnen und Sprechern ein Wort bekannt ist, noch wenig darüber aussagt, ob sie auch alle Verwendungsweisen des Wortes im aktuellen Sprachgebrauch kennen. (Peter in diesem Band, Kap. 5.)

      Welche Konsequenzen die schulische, asymmetrische Korrektur von Varianten des Standarddeutschen für den Erwerb von Schriftsprache und Textkompetenz in verschiedenen Regionen des deutschen Sprachgebiets hat, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschätzt werden. Die Frage, wie sich die eingangs des vorliegenden Kapitels erwähnten unterschiedlichen Varietäten-Konstellationen auf das schulische Schreiben und den Umgang mit Normen auswirken, und zwar sowohl auf die Textproduktion der SchülerInnen als auch auf die Textbewertung der LehrerInnen, ist bislang noch nicht systematisch untersucht worden. Es wäre lohnenswert, hier korpusanalytisch zu untersuchen, worin sich unter einheitlichen Bedingungen erhobene Schülertexte aus den verschiedenen Regionen des deutschen Sprachraums auf verschiedenen sprachlichen Ebenen unterscheiden. Dabei könnte in variationstheoretischer Hinsicht geprüft werden, inwiefern sich die Konzepte der Plurizentrik bzw. der Pluriarealität der deutschen Standardsprache, wie sie für die Beschreibung lexikalischer und grammatischer Variation vornehmlich der geschriebenen Mediensprache im deutschen Sprachraum herangezogen werden können, für die Beschreibung der Sprachnormkonzepte eignen oder ob sich Struktur- und Diskursmuster in den Schülertexten (bspw. in argumentativen Texten) sowie die Bewertungsmuster räumlich entweder gar nicht oder dann abweichend von den Konzepten der Plurizentrik oder Pluriarealität fassen lassen. Daher wäre es wünschenswert, die Frage der Standardvarietäten im internationalen deutschsprachigen Raum in der Ausbildung von DeutschlehrerInnen stärker mitzuberücksichtigen und insbesondere auch bei der Schulbuchkonzeption (für alle Stufen und Schultypen) im Blick zu haben. Eine Erweiterung der Perspektive in kulturlinguistische Richtung könnte mit einer Verknüpfung bisheriger Ergebnisse mit diskurstheoretischen Untersuchungen zur Schulkultur erreicht werden, bei der die Art und Wirkung von auf- und abwertenden Kulturpraktiken in der schulischen Interaktion fokussiert werden. Dabei könnte untersucht werden, auf welche Weise diskursive Präferenzen zu einem Normalisierungsprozess im institutionellen Kontext der Schule führen.

      Gegenwärtig wird in einem Sprachkulturraum, in dem interkulturelle Begegnungen alltäglich sind, in vielen Kontexten sprachliche Flexibilität erwartet. Im deutschsprachigen Raum verwenden zahlreiche Sprecherinnen und Sprecher in ihrem Alltag mehrere Sprachen und Varietäten und partizipieren somit an verschiedenen Varietätenkulturen. Dennoch erleben sie ihre innere Mehrsprachigkeit oft nicht als Gewinn, sondern als Defizit. Die Varianten des Standarddeutschen, auch wenn diese als standardsprachlich kodifiziert und in der Schriftsprache belegbar sind, betrachten sie letztlich doch eher als Normabweichung denn als Bereicherung ihres sprachlichen Repertoires. Wir meinen, dass diese Problematik es verdient, in der DeutschlehrerInnenausbildung und im Deutschunterricht auf allen Stufen regelmässiger thematisiert zu werden.

      Dank

      Im Namen aller Herausgeberinnen sei den Kolleginnen und Kollegen herzlich gedankt, die die Beiträge in einem anonymen Peer-Review-Verfahren kritisch begutachtet und somit zur Qualität des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Nadine Mathys, Regula Gschwend und Alexandra Schiesser, Universität Freiburg (Schweiz), danken wir für ihre grosse Hilfe bei der Einrichtung und Korrektur der Beiträge. Den Beiträgerinnen und Beiträgern selbst danken wir nicht nur für ihre Texte und die gute Zusammenarbeit, sondern auch für ihre Geduld.

      Literatur

      Ammon, Ulrich, Hans Bickel & Alexandra N. Lenz (2016) (Hrsg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie in Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Berlin: de Gruyter.

      Ammon, Ulrich, Hans Bickel, Jakob Ebner, Ruth Esterhammer, Markus Gasser, Lorenz Hofer, Birte Kellermeier-Rehbein, Heinrich Löffler, Doris Mangott, Hans Moser, Robert Schläpfer, Michael Schlossmacher, Regula Schmidlin & Günter Vallaster (2004): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol. Berlin, New York: de Gruyter.

      Ammon, Ulrich (1995): Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin, New York: de Gruyter.

      Ammon, Ulrich (1998): Plurinationalität oder Pluriarealität? Begriffliche und terminologische Präzisierungsvorschläge zur Plurizentrizität des Deutschen – mit einem Ausblick auf ein Wörterbuchprojekt. In: Ernst, Peter & Franz Patocka (Hrsg.): Deutsche Sprache in Raum und Zeit. Festschrift für Peter Wiesinger zum 60. Geburtstag. Wien: Edition Praesens, 313–322.

      Auer, Peter (2013): Enregistering pluricentric German. In: da Silva, Augusto Soares (Hrsg.): Pluricentricity. Language Variation and Sociocognitive Dimensions. Berlin, Boston: de Gruyter, 17–43.

      Clyne, Michael G. (1995): The German Language in a Changing Europe. Cambridge: Cambridge University Press.

      Dürscheid, Christa, Stephan Elspaß & Arne Ziegler (2015): Variantengrammatik des Standarddeutschen. Konzeption, methodische Fragen, Fallanalysen. In: Lenz, Alexandra N. & Manfred M. Glauninger (Hrsg.): Standarddeutsch im 21. Jahrhundert – Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich. Wien: Vienna University Press, 207–235.

      Elspaß, Stephan & Konstantin Niehaus (2014): The standardization of a modern pluriareal language. Concepts and corpus designs for German and beyond. In: Orð og tunga 16, 47–67.

      Glauninger, Manfred M. (2015): (Standard-)Deutsch in Österreich im Kontext des gesamtdeutschen Sprachraums. Perspektiven einer funktional dimensionierten Sprachvariationstheorie. In: Lenz, Alexandra N. & Manfred M. Glauninger (Hrsg.): Standarddeutsch im 21. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress, 11–57.

      Herrgen, Joachim (2015): Entnationalisierung des Standards. Eine perzeptionslinguistische Untersuchung zur deutschen Standardsprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Lenz, Alexandra N. & Manfred M. Glauninger (Hrsg.): Standarddeutsch im 21.