Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000249
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sowie empirisch angemessener ist auf Basis der bisher vorgelegten Ergebnisse jedenfalls die Betrachtung des Gebrauchsstandards nach relativen Frequenzen, für die sich das pluriareale Modell sehr gut eignet. Dies führt nun zur Frage, ob nicht das plurizentrische Modell trotz allem sprachdidaktisch vorteilhaft ist im Vergleich zum durchaus komplex erscheinenden pluriarealen Modell, ob also die Vereinfachung auf nationale Varietäten durch den plurizentrischen Ansatz didaktisch zulässig ist (und wo dabei Sprachdidaktik aufhört, im Kern didaktisch zu sein und stattdessen politisch zu werden).

      5. Sprachdidaktische Bedeutung der Pluriarealität

      Sprachdidaktik und Sprachpolitik scheinen in der Frage nach arealen Varietäten des Standarddeutschen besonders eng verwoben zu sein. Zur Klärung des genauen Zusammenhangs wie auch der Folgen plurizentrisch gegenüber pluriareal basierter Deutschdidaktik gibt es jedoch wenig Forschung. Insofern müssen alle folgenden Überlegungen als vorläufig gelten, bis empirisch weitreichende Untersuchungen unternommen worden sind. Dennoch will ich einige Punkte hervorheben, die zum einen als Einwände gegen eine plurizentrisch orientierte Didaktik gelten können, zum anderen als Anregung für sprachdidaktische Forschungsfragen dienen können.

      Das plurizentrische Modell hat zur Folge, dass auch Mehrheitsvarianten im Sinne einer didaktischen Komplexitätsreduktion zu absoluten Varianten uminterpretiert werden können. Ich verdeutliche das hieran Problematische am Fall Westösterreichs: Gehen wir nur einmal von der Annahme aus, dass bspw. in Österreich Deutschlehrer sich in der Praxis auf das plurizentrische Modell stützen würden. Auch im Unterricht wäre es dann nicht unproblematisch, Frequenzvarianten wie Neutrum bei (E-)Mail in Österreich zu absoluten nationalen Varianten zu erheben. Dadurch entsteht der Eindruck einer monolithischen Nationalvarietät, die durch den tatsächlichen Sprachgebrauch nicht gedeckt ist – in Westösterreich werden laut unseren Ergebnissen nicht nur wie im Rest Österreichs beide Varianten geschrieben, sondern die ‚deutsche‘ Variante mit femininem Genus sogar mehrheitlich. Im konkreten Fall würde dieses Übergewicht einer ostösterreichischen Variante (der Variante mit neutralem Genus) besonders in Westösterreich eine Deutschdidaktik bedeuten, die offenbar den Schreibgewohnheiten nicht entspricht und wohl nicht zu kommunikativen Missverständnissen führen dürfte (anders als in der Lexik, vgl. Putz 2002: 71), aber zumindest Unverständnis unter den Schülern hervorrufen kann. D.h., es bliebe den Schülern unklar, warum man die E-Mail oder analoge Formen nicht verwenden sollte außer aus dem alleinigen Grund, es sei eine ‚deutsche‘ Variante, keine ‚österreichische‘. Und aus Sicht der österreichischen Lehrkräfte gefragt: Soll man die ‚deutsche‘ Variante dann korrigieren, obwohl ein großer Teil der Deutschsprachigen in Österreich die Variante geregelt als Standardvariante verwendet?1 Dann würde der Deutschunterricht in Österreich vorrangig dem Patriotismus, d.h. der Hebung eines Nationalgefühls mit ostösterreichischer Prägung, dienen – was aber auch explizit so kommuniziert werden müsste. Wie kontraproduktiv eine solche Betonung eines vermeintlich gesamtösterreichischen Standarddeutschen sein kann, hat Putz (2002: 61) bereits für die DaF-Didaktik Österreichs aufgezeigt. Für die Betrachtung der Grammatik bleibt es nicht auf diesen einen Fall der Genusvariation bei E-Mail beschränkt, auch in anderen Bereichen weist Westösterreich deutlich andere Frequenzverhältnisse des Gebrauchsstandards auf als Ostösterreich, etwa wie schon gesehen teilweise in der Trennbarkeit von widerspiegeln oder nicht zuletzt auch in der Serialisierung in Verbalkomplexen (vgl. Niehaus 2014: 305–306). Es ist anzunehmen, dass sich durch die areale Vielfalt innerhalb Österreichs die frühere Problematik des einheitlichen Binnendeutschen nur umlegen würde auf ein vermeintlich einheitliches ‚österreichisches Standarddeutsch‘. Und hinzu kommt, selbst wenn man vom Fall Westösterreich absieht: Auch in anderen Teilen Österreichs sind häufig, so auch beim Genus von (E-)Mail, mehrere Varianten als standarddeutsch hinreichend in Verwendung – und somit nach Argumentation des Forschungsprojekts als korrekter Sprachgebrauch zu betrachten. Insgesamt besteht also sprachdidaktisch die Gefahr, dass ohne empirische Grundlage ein sprachmonomaner Variantenabbau ‚von oben‘ auf eine einheitliche nationale Norm hin betrieben wird, d.h. das wissenschaftliche Fundament des Deutschunterrichts von politischen Wunschvorstellungen unterlaufen wird.

      In einem letzten Punkt seien darum auch sprachpolitische Aspekte kurz diskutiert, wobei ich mich hier besonders auf Österreich und Deutschland konzentriere. Für Deutschland besteht die Gefahr, dass sich eine klischeehafte Metonymie ‚nord(west)deutsch = deutsch‘ (in Österreich auch: ‚deutsch = preußisch‘) ausbreitet – schon bei der Lexik konnte man feststellen, dass sogenannte ‚Teutonismen‘ „sofern sie nicht offizielle Amtswörter sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit norddeutsch geprägt“ sind (Eichinger 2005a: 157). Die große areale Vielfalt einer Nation wie Deutschland, die nicht nur im Wortschatz, sondern – wie die obigen Beispiele zeigen – durchaus auch innerhalb der Grammatik des Standarddeutschen bestehen kann, wird dadurch vernachlässigt. Für Österreich mag man Hoffnungen in das plurizentrische Modell dahingehend setzen, dass es bspw. den Österreichern durch die Vereinfachung auf nationale Varietäten die von Auer (2013: 41) sogenannte „asymmetrical pluricentricity“ gewissermaßen ‚austreibt‘, d.h. den ständigen Vergleich des eigenen Sprachgebrauchs mit dem der Bundesdeutschen (obwohl von letzteren kein solcher stattfindet) als müßig vermittelt wird. Letztlich soll das plurizentrische Modell also zu einem positiven sprachlichen Selbstbewusstsein in Österreich führen. Die Chance absoluter sprachpolitischer Gleichwertigkeit ist jedoch m.E. eher im pluriarealen Ansatz gegeben, und zwar aus folgendem Grund: In Österreich herrscht ein scheinbar widersprüchlich zwischen ‚österreichischer‘ und ‚deutscher‘ Variante schwankender Gebrauch des Standarddeutschen. Auf der Basis des pluriarealen Modells wird dies als Mythos entlarvt, weil solche nationalen Zuschreibungen im Regelfall nicht exakt oder gar nicht zutreffen und grundsätzlich beide Gruppen, Österreicher wie Deutsche, beide Varianten verwenden – nur eben auch innerstaatlich unterschiedlich häufig (ebenjene Häufigkeiten werden im Übrigen auch transparent gemacht). Ein Grundverständnis für solch frequenzielle Verhältnisse trägt zur Variationstoleranz bei. Und erst, wenn eine solche verinnerlicht wurde, mag man auch auf eine Identitätsbildung in Österreich hoffen, die die sprachgeschichtlich wie gegenwartssprachlich engen Querverbindungen zu Deutschland reflektiert und als Chance, nicht als Risiko, begreift.

      6. Fazit und Ausblick

      Die Einzelanalysen zeigen, dass in der Grammatik des Standarddeutschen areale Variation durchaus in unterschiedlichsten grammatischen Teilbereichen vorhanden ist und dass diese Arealität bislang als pluriareal einzustufen ist. Einige Vorteile des pluriarealen Ansatzes sind offensichtlich: die höhere theoretische Gewichtung relativer Varianten, die methodische Offenheit bezüglich der Stärke arealer Grenzen und die mit beidem einhergehende vergleichsweise hohe Flexibilität des Korpusdesigns wie generell Anpassungsfähigkeit des Modells an die Empirie. Zur Methodik ist noch zu sagen, dass diese außer den dargestellten Chancen freilich auch ein Risiko birgt: nämlich, einen Ansatz mittels digitaler Großkorpora nur mit linguistischer, nicht aber mathematischer Kritik zu hinterfragen. Bspw. könnte man einwenden, manches Auftreten einer Variante in bestimmten, eigentlich für sie ‚untypischen‘ Arealen komme einfach durch die schiere Masse der Texte zustande und ergebe sich aus reiner Wahrscheinlichkeit: Wenn ein Korpus groß genug ist, wird sich auch irgendwann eine bestimmte Form darin finden, so einflussreich außersprachliche Faktoren auch sein mögen. Hiergegen sind zwei Argumente vorzubringen: Erstens sprechen Fälle dagegen, in denen sehr wohl kein einziger Beleg für eine Variante zu finden ist, trotz der Masse an Texten (z.B. durchwegs im deutschen Nordosten). Und zweitens sind neben dem absoluten Auftreten immer die relativen Zahlen zu beachten – so gehen vereinzelte Belege als ‚statistisches Rauschen‘ sozusagen in der Masse an Belegen für die Gegenvariante unter (z.B. durchwegs im deutschen Nordwesten). Freilich löst das nicht das grundsätzliche Problem, aber es sind doch sehr bedenkenswerte Gegenbeispiele. Und im Grundsatz wäre immerhin noch darauf zu verweisen, dass die ‚Variantengrammatik‘ all diese Daten zugänglich macht, sodass man überhaupt darüber diskutieren kann – präzise Angaben zu Quantitäten bzw. ein zugrundeliegendes systematisch quantitatives Raster findet sich (teilweise auch aufgrund früherer eingeschränkter Möglichkeiten) bisher kaum in Wörterbüchern und Grammatiken, auch nicht in denen mit wissenschaftlichem Anspruch.

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