Beurteilungsgespräche in der Schule. Vera Mundwiler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Mundwiler
Издательство: Bookwire
Серия: Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000140
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oder Erzählungen.

      Im Sinne von Sacks (1972; 1995) kann das Beurteilen als für Lehrpersonen typische und daher kategoriengebundene Aktivität verstanden werden (vgl. Kap. 2.4.2). Zunächst drängt sich eine Abgrenzung von Bewerten und Beurteilen auf, da sich dazu in der Forschungsliteratur unterschiedliche Definitionen finden. Mit Becker-Mrotzek und Böttcher (2012: 123) verstehe ich das Bewerten als einen der Beurteilung zugrundeliegenden „mentale[n] Prozess des Einschätzens“ und schliesslich das Beurteilen als eine „verbal geäusserte Bewertung“. Eine Bewertung kann also verbal als Beurteilung geäussert werden, oder dann in einer im Kontext der Schule typischen Note münden, welche sich als „zusammenfassende Bewertung einer Leistung“ definieren lässt (Becker-Mrotzek & Böttcher 2012: 124).

      Bewertungen finden sich jedoch nicht ausschliesslich in schulischen Kontexten, sondern gelten vielmehr als ständige Bestandteile alltäglicher Interaktion (vgl. Fiehler 2001a: 1429; Hrncal & Gerwinski 2015: 46; Pomerantz 1984: 57). Denn sobald „Akteure Personen, Dinge, Verhaltensweisen, Ereignisse, Orte und vieles mehr hinsichtlich spezifischer oder vager Bewertungsmassstäbe einer Beurteilung unterziehen (im einfachsten Falle gut vs. schlecht)“ (Hrncal & Gerwinski 2015: 46), liegt ein Bewertungsdiskurs vor. Das Bewerten findet demnach in vielen Kontexten statt und kommt immer dann zum Zuge, wenn über die Sachverhalte hinaus eine Bewertung oder Beurteilung zustande kommt. Fiehler (2001a: 1429) versteht dann auch Kommunikation als eine „Verständigung über Sachverhalte“ und eine „Verständigung über Bewertungen“, denn „[b]eim Austausch über ein Thema werden immer auch Bewertungen kommuniziert“. Nach dieser Auffassung kann also das Bewerten als stets mitkommunizierte Aktivität gelten.

      Während in Alltagsgesprächen auch vage Bewertungsmassstäbe hinzugezogen werden, liegen der Leistungs- und Verhaltensbeurteilung in der Regel schulbezogene Kriterien zugrunde. Es gelten demnach institutionelle Massstäbe, an denen sich die Beurteilungen in Form von Noten oder (standardisierten) Beschreibungen orientieren (vgl. z.B. Mazeland & Berenst 2008, siehe Kap. 1.1.2).

      In den vorliegenden Gesprächsdaten müssen sich die SchülerInnen gelegentlich auch selbst beurteilen. Selbstbeurteilung kann definiert werden als „das Bemühen der Lernenden, ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln zu reflektieren, einzuschätzen und gegebenenfalls zu bewerten“ (Nüesch, Bodenmann & Birri 2009: 43). Hierbei können – wie auch generell bei Beurteilungen – verschiedene Bezugsnormen relevant sein. Es werden in der Regel die Sozialnorm, die Lernzielnorm und die Individualnorm unterschieden, wobei teilweise andere Begriffe verwendet werden (vgl. Lötscher & Roos 2005: 14; Nüesch, Bodenmann & Birri 2009: 50; Winter 2004: 61ff.). Die Sozialnorm kommt dann zum Tragen, wenn die Leistung eines Kindes an der Leistung anderer gemessen wird. Diese Beurteilung erfüllt die Funktion der Selektion. Bei der Lernzielnorm geht es um die Standortbestimmung eines Kindes und gemessen wird der Erfolg im Hinblick auf die vereinbarten Lernziele. Und bei der Individualnorm werden die Fortschritte eines Kindes bewertet, was einer Förderung oder Bestärkung gleichkommt. Aus förderorientierter Perspektive sind gemäss Lötscher und Roos (2005: 16) insbesondere die beiden letztgenannten Normen zu beachten und die Sozialnorm eigne sich hingegen nicht für die Selbstbeurteilung von Leistungen. Demnach kann das Instrument der Selbstbeurteilung vor allem dann sinnvoll angewendet werden, wenn SchülerInnen sich selbst in Bezug auf Lernziele und Lernfortschritte beurteilen.

      Vögeli-Mantovani (2011: 254) versteht „Selbstbeurteilungen als Voraussetzung für partnerschaftliche Beurteilungsgespräche“ und weist damit SchülerInnen eine anerkannte, gleichberechtigte Rolle zu. Weiter kommt er zum Schluss:

      Selbstbeurteilung ist eine Voraussetzung für aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Alters am Beurteilungsgespräch. Umgekehrt gilt auch, dass ein Beurteilungsgespräch ohne Anteile von Selbstbeurteilung die Hauptperson nicht ernsthaft einbeziehen kann. (Vögeli-Mantovani 2011: 261)

      In welchem Masse es sich um „partnerschaftliche Beurteilungsgespräche“ handelt und wie die Selbstbeurteilungen von SchülerInnen in den Gesprächen eingebettet werden, zeigt sich dann in den Analysen in Kapitel 8.

      2.5 Zusammenfassung

      Die vorliegende Untersuchung orientiert sich theoretisch und methodisch an der konversationsanalytischen Gesprächsanalyse und fokussiert insbesondere Fragen der interaktiven Kooperation, der Gesprächsbeteiligung und der Positionierung. Unter Kooperation ist die grundsätzlich wechselseitige, interaktive Ausgestaltung von mündlichen Gesprächen zu verstehen und es geht dabei im Wesentlichen um das Recipient Design. Damit hängt auch die Organisation von Gesprächsbeteiligung zusammen, wo es spezifischer um die Formen der Inklusion und Exklusion in der Interaktion geht. Und bei der Positionierungsanalyse schliesslich geht es um die Aushandlungen von Identität(en) im Gespräch. Dabei interessieren insbesondere Positionierungen, die im Rahmen der untersuchten Gespräche als Beurteilungen fungieren.

      3 Methodenreflexion und Datenmaterial

       „What sorts of animals are to be found in the interactional zoo?

       What plants in this particular garden?“

      (Goffman 1983: 6)

      Ziel dieses Kapitels ist es, zum einen das analytische Vorgehen transparent zu machen und zum anderen einen vertieften Einblick in das verwendete Korpus zu gewähren. Zwar wurden Theorien und Methoden in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellt, jedoch soll hier ergänzend und konkretisierend aufgezeigt werden, welche Vorgehen gewählt wurden und welche Implikationen die methodischen und analytischen Entscheidungen für die Ergebnisse haben. Bei der Präsentation des Datenmaterials werden erste allgemeine und strukturelle Beobachtungen zu den Gesprächen diskutiert.

      3.1 Reflexion zum methodischen Vorgehen

      Für die vorliegende Analyse wird mit natürlichen Gesprächsdaten gearbeitet, die für dieses Projekt an Schulen aufgenommen und transkribiert wurden. Da bei der Gesprächsanalyse die einzelnen Schritte der Erhebung, Aufbereitung und Analyse von Daten theoretisch und methodologisch geprägt sind, soll das konkrete Vorgehen im Folgenden diskutiert und reflektiert werden.

      3.1.1 Datenerhebung und Zugang zum Forschungsfeld

      Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt wurde, gibt es in der Gesprächsforschung unterschiedliche Positionen zum Einbezug von zusätzlichen Informationen bezüglich Untersuchungsfeld und Gesprächssituation. Während in der klassischen Konversationsanalyse ausschliesslich die Gesprächsaufnahmen als Datenmaterial verwendet werden, wird inzwischen jedoch vermehrt auf ergänzende Daten und Beobachtungen zurückgegriffen, um noch tiefere Einblicke in die ‚Kultur’ des untersuchten Gesprächssettings zu erhalten (vgl. Deppermann 2000; Deppermann 2008a: 22ff.). Festzuhalten sind dabei nicht nur allgemeine Beobachtungen zum Feld oder zu ergänzenden Gesprächen mit den Studienteilnehmenden, sondern auch zum gesamten Ablauf der Datenerhebung. So empfiehlt Deppermann (2008a: 24) auch Kontaktversuche und Vorbesprechungen zu protokollieren, denn

      [d]ie Bedenken, Widerstände und Ängste, die sich einer Untersuchung entgegenstellen, sind oft ebenso aufschlußreich für das, was wir erforschen wollen, wie die Gespräche, die wir schließlich aufnehmen können.

      Diese Daten können zusätzliche Eindrücke gewähren und eine schärfere und umfassendere Analyse der situationstypischen Eigenheiten ermöglichen. Ganz in diesem Sinne ist die folgende Darstellung zu verstehen, in der beschrieben wird, wie die Kontakte mit den Schulen zustande kamen und mit welchen Reaktionen von Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern sowie SchülerInnen ich mich konfrontiert sah.

      Zugang zum Forschungsfeld

      Die Datenerhebung fand von 2011–2013 statt und war von Anfang an durchzogen von Absagen und Verzögerungen, sodass im längsten Fall über ein Jahr zwischen Kontaktaufnahme und tatsächlicher Aufzeichnung eines Gesprächs verstrich. Insgesamt lassen sich allerdings stufenspezifische Unterschiede vermerken. So wurde vonseiten der angefragten Lehrpersonen an Primarschulen sofortiges Interesse bekundet und die