[J]e älter und ‚mündiger’ unsere Schülerinnen und Schüler werden, desto mehr reden wir fast ausschliesslich direkt miteinander, Eltern dürfen ja dann im Normalfall nur noch dabei sein, wenn ihre Söhne und Töchter das erlauben. Im Nicht-Normalfall ist Gross-Krise, vermutlich ohne Tonband… (Lehrerin, persönliche E-Mail, 2012)
[A]us meiner Optik dünkt mich die Sache recht heikel, da der Anlass solcher Gespräche nicht immer erfreulich ist und mit der Anwesenheit einer Drittperson die Situation eine andere wird. […] Zudem finden immer seltener Elterngespräche statt, da bei Volljährigkeit die Lernenden unsere direkten Ansprechpartner sind. (Mitglied der Schulleitung, persönliche E-Mail, 2012)
In beiden Auszügen wird betont, dass die SchülerInnen selbst als primäre Ansprechpartner gelten und es nur in Krisenfällen zu Elternkontakten kommt. Folglich sind diese Gespräche auch „nicht immer erfreulich“ oder „heikel“ und somit als sensibel einzustufen. Es überrascht nicht und deckt sich auch mit mündlichen Aussagen von anderen Schulleitungen und Lehrpersonen, dass gerade in diesen Fällen, die für eine Untersuchung interessant wären, die Einwilligungen für eine Aufnahme eher nicht zustande kämen. Dass es auch bei Gesprächen auf der Primarstufe zu heikleren Settings und Krisengesprächen kommen kann, ist zwar nicht auszuschliessen. Was aber insbesondere die Gespräche auf der Sekundarstufe II problematischer erscheinen lässt, ist einerseits der Umstand, dass erst bei vorhandenen Schwierigkeiten überhaupt ein Gespräch veranlasst wird. Andererseits ist die Gesprächssituation ungewohnter, wenn es zwischen den Beteiligten nicht zu einem regelmässigen Austausch kommt. Dies widerspiegelt sich in der zitierten Aussage, dass die Lehrpersonen häufig bei diesen Gesprächen das erste Mal den Eltern gegenüberstehen.
Auch wenn es sich bei den Ausführungen um allgemeinere Eindrücke und Einzelbetrachtungen von schriftlichen Aussagen handelt, die nicht systematisch eingeholt wurden, sind sie in Bezug auf die soziale Praxis des Beurteilungsgesprächs aufschlussreich. Die Beobachtungen zur Kooperation respektive Zurückhaltung von angefragten AkteurInnen zeigen ein allgemeines Unbehagen der Beteiligten mit der Gesprächssituation. Gleichwohl wird diesem Umstand in Ausbildungsgängen nicht genügend Rechnung getragen. Gerade wenn im Bereich der Sekundarstufe II die Beurteilungsgespräche in der Häufigkeit abnehmen und nur in Problemfällen geführt werden, bestärkt dies m.E. die Notwendigkeit einer Untersuchung genau solcher Gespräche, um eine entsprechende Vorbereitung von angehenden Lehrpersonen gewährleisten zu können.
Abschliessend stellt sich noch die Frage, inwiefern die Gespräche heikel sind und weshalb in vielen Fällen nur sehr zögerlich auf das Forschungsvorhaben reagiert wurde. Besonders im Hinblick auf die inzwischen lange Forschungstradition der Arzt-Patienten-Kommunikation erscheinen die potenziell heiklen Themen in einem schulischen Beurteilungsgespräch verschwindend klein und die Datenschutzfrage bei gewährleisteter Anonymisierung geklärt zu sein. Spekulativ lässt sich die Vermutung anstellen, dass es nicht so sehr um sensible Informationen zum Kind oder weiteren Beteiligten geht, sondern dass die am Gespräch Beteiligten in Bezug auf die Gesprächspraktiken und die Beziehungsebene unsicher sind. Gerade deswegen ist es wichtig, die Forschungsfragen dieser Arbeit anzugehen: Was geschieht in diesen Gesprächen? Welche Praktiken und Ressourcen werden von den Gesprächsteilnehmenden verwendet? Welche Ziele werden von den einzelnen Beteiligten verfolgt und auf welche Weise? Und wie positionieren sich die Beteiligten in den Gesprächen, wie handeln sie ihre Rollen aus? Die Reflexion des Erhebungsprozesses zeigt einerseits, in welchem Umfeld die Studie angesetzt ist und welche AkteurInnen involviert sind, andererseits lassen sich durch den Einbezug dieses Kontextes erste Fragen an das Datenmaterial entwickeln.
Erhebung der Gesprächsdaten
Das Erteilen der Informationen an die beteiligten Parteien sowie das Einholen der entsprechenden Einwilligungen waren je nach Schule und persönlichen Kontakten unterschiedlich organisiert. In der Regel bestand ein Kontakt zwischen Forscherin und Schulleitung sowie Lehrperson. Die Eltern wurden dann brieflich, oder in Einzelfällen telefonisch, direkt von der Lehrperson angefragt. In einigen wenigen Fällen liefen alle Kontakte zu den Gesprächsteilnehmenden via Schulleitung und sind somit der Forscherin nicht bekannt. Nur in einem Fall sind der Forscherin die Eltern bekannt, da es sich um einen persönlichen Kontakt handelt.
Dass es in den meisten Fällen nicht zu einer Begegnung zwischen Forscherin und Eltern kam, wurde teils implizit, häufig aber explizit gewünscht und so wurde auch die Übergabe des Aufnahmegeräts sowie die Aufnahme selbst entsprechend organisiert (vgl. auch ten Have 2007: 84). Mondada (2013: 38) nennt das Setting, die Vertraulichkeit sowie die Bereitschaft der Teilnehmenden als wichtige Einflussfaktoren, welche die Entscheidung zur Gestaltung des Aufnahmeprozesses mitgestalten: „The decision depends on the setting, the intimacy of the action recorded and the degree of collaboration from the participants“. Im vorliegenden Projekt wurden von den Teilnehmenden mehrheitlich Vorbehalte bezüglich Datenschutz sowie Störung des natürlichen Gesprächs geäussert und insofern wurde von der Anwesenheit der Forscherin (und dadurch auch von der teilnehmenden Beobachtung als zusätzliche Erhebungsmethode) abgesehen.
Mit der Abgabe der Kontrolle über den Aufnahmeprozess an Gesprächsbeteiligte geht ein gewisses Risiko einher, welches sich auch auf die vorliegenden Daten auswirkt. So wurden zwar die Lehrpersonen jeweils instruiert, das Aufnahmegerät so früh wie möglich ein- und so spät wie möglich auszuschalten, damit auf der Aufnahme möglichst die Gesprächsränder für die Analyse zugänglich sind. Teilweise wurde jedoch das Gerät erst nach der Begrüssung und informellen Vorphase des Gesprächs eingeschaltet oder schon vor der Verabschiedung ausgeschaltet und so sind die für Vor- und Nachphasen typischen Praktiken nicht in allen Fällen vollständig vorhanden.
Ebenfalls aufgrund der Besorgnis um Datenschutz und Störung der Gespräche vonseiten der Schulen, war es im gegebenen Kontext nicht möglich, die Interaktionen auf Video aufzuzeichnen,1 obwohl dadurch das Interaktionsgeschehen detailgetreuer hätte analysiert werden können. Je ganzheitlicher die fokussierte soziale Praxis aufgenommen wird, desto eher kann gewährleistet werden, dass die soziale Wirklichkeit annähernd in ihrer Gesamtheit abgebildet wird – obwohl dieser Anspruch wohl nie ganz erfüllt werden kann (vgl. Mondada 2013: 55). Seit die technischen Möglichkeiten bestehen, werden daher Videodaten in der Gesprächsforschung bevorzugt, da die Körperlichkeit bei der Kommunikation eine grosse Rolle spielt und so auch mit registriert werden kann (vgl. Mondada 2013: 39). Ten Have (2007: 72) fügt an, dass auch dann grundsätzlich Videodaten empfohlen werden, wenn in der Analyse nicht spezifisch auf visuelle Aspekte der Kommunikation eingegangen wird, da diese Daten bei der Transkription (z.B. bei der teilweise unklaren Zuordnung von Sprecherbeiträgen in Mehrparteieninteraktionen), aber auch bei der Detailanalyse helfen können. Auch lassen sich Pausen mit Videodaten klarer interpretieren, da Schweigen oder fehlende Antworten nicht unbedingt bedeuten, dass keine Interaktion stattfindet. Eine Beschränkung auf Audiodaten birgt also die Gefahr, dass an gewissen Stellen keine abschliessenden Aussagen zur lokalen Bedeutung der interaktiven Praktiken gemacht werden können. Neben den genannten Vorzügen von Videoaufnahmen besteht jedoch auch die Gefahr, durch die Installation von Videokameras die Aufnahmesituation stärker zu beeinflussen oder gar zu stören (vgl. auch Kotthoff 2012b: 5). Audioaufnahmen können hingegen mit inzwischen sehr kleinen und unauffälligen Geräten in hoher Qualität erzielt werden und es wurde mir von Lehrpersonen bestätigt, dass die Aufnahmesituation dadurch schon nach wenigen Minuten in Vergessenheit geraten sei.
Erhebung ethnografischer Daten
Für die weitere Einbettung der Daten im Kontext dienen einerseits die Vor- und Nachbesprechungen mit den Mitgliedern der Schulleitungen (vgl. auch die Diskussion zu dem Feldzugang), den Lehrpersonen sowie vereinzelt den Eltern. Andererseits diente ein kurzer Fragebogen