Nachtdenken. Martina Bengert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Bengert
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300397
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in sich ein.6

      1962 erscheint L’attente l’oubli – das letzte fiktionale Buch, das unter den Blanchotschen Begriff des récit fällt, und so den endgültigen Übergang Blanchots von den Erzählungen hin zum Fragmentarischen einleitet. Sein Schreiben durchläuft folglich stetige Zersetzungsprozesse: vom Roman zum récit, vom récit zum Fragmentarischen und von den Fragmenten in die Mikrosphäre begrifflicher Konstrukte. Anzumerken sei aber, dass diese Auflösungsbewegung des Erzählens zwar über den Wandel der Textform zu beobachten ist, gleichzeitig sind aber schon die ersten Romane von philosophischen Denkfiguren durchsetzt. Narrative Elemente bilden zudem Rezidive im literaturkritischen Spätwerk.7

      0.2 Differenzen zweier Bücher selben Titels

      Bei einer ersten Betrachtung der beiden Texte mit dem Titel Thomas l’Obscur fällt die unterschiedliche Erscheinung der Kapiteleinteilung ins Auge. Die Kapitel in TO1 beginnen nicht mit einer neuen Seite, während in TO2 die strukturierende und trennende Funktion der einzelnen Kapiteleinheiten deutlicher ist und somit ein wichtiges Textmerkmal bildet, an dem sich meine Interpretation orientiert und worauf ich in den Präliminarien bereits hingewiesen habe. Neben der Kapiteleinteilung unterscheidet TO2 von TO1 die Textlänge, denn TO2 umfasst nur etwas mehr als ein Viertel des Textvolumens von TO1.1 Eine auffällige Differenz zwischen den beiden Fassungen des Textes Thomas l’Obscur ist die Reduktion der 15 Kapitel der ersten Version auf 12 Kapitel in der zweiten Fassung. Die Zahl 12 scheint bei dieser Reduktion der Kapitel kein Zufall zu sein. Zum einen verweist sie auf eine Anlehnung an die großen epischen Texte, vor allem aber erscheint sie als eine Hinterfragung derselben, die entweder 12 Kapitel oder als Verdopplung der 12 eine Anzahl von 24 Kapiteln umfassen.2 TO2 schreibt sich aufgrund seiner Kürze wie seiner metaliterarischen Hinterfragung des Erzählens als andere Art des Erzählens jenseits der Ausschmückung in den Diskurs ein. Darüber hinaus ist, wie im 3. Kapitel meiner Untersuchung näher ausgeführt wird, Thomas einer der 12 Apostel Jesu, was sich ebenfalls hinsichtlich der Zahl 12 als nicht kontingent darstellt. Zudem erschließt sich ein weiterer Bibelbezug über die 12 Stämme Israels des Alten Testaments, worauf mein 5. Kapitel eingehen wird. Schließlich aber ist die 12 in der Tag/Nacht-Rhythmisierung als Zäsur von Tag und Nacht sowie abermals in ihrer Verdopplung als Einheit eines Tages von 24 Stunden wichtig. Einen letzten Zusammenhang der 12er-Rhythmisierung wird das 12. Kapitel durch Referenzen auf Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß erfahren: Das Handlungsgeschehen dieses Romans erstreckt sich zeitlich vom Morgen des 30. Geburtstag Josef K.s bis zum Vorabend seines 31. Geburtstages. Daraus folgt, dass vom Beginn des Prozesses gegen K. bis zu seiner Tötung genau 12 Monate vergehen.

      Das erheblich reduzierte Textvolumen von TO2 resultiert hauptsächlich aus Kürzungen der mittleren Passagen von TO1. Hier finden, anders als in den ersten und den letzten Kapiteln, umfangreiche Streichungen und Umordnungen statt.3 Die Streichungen in TO2 reichen von ganzen Kapiteln bis hin zu einzelnen Lexemen, wodurch die Sorgfalt, mit der Blanchot an TO2 gearbeitet hat, klar zum Vorschein kommt.4 TO1 weist deutlich mehr Weltreferenz als TO2 auf. Dies äußert sich z.B. in konkreten Ortsangaben (Paris, ein Museum, ein Café etc.), die in TO2 zu generischen Orten werden. In TO1 werden Geschehnisse zumindest teilweise erklärt, während der Text von TO2 diese Explikationen kürzt und ins Implizite überführt.5 Ein wichtiges Beispiel ist die in Ansätzen vorhandene Tiefenschärfe der Protagonisten in TO1, die in TO2 zu einer transpersonalen Oberfläche von Wahrnehmungen und Beobachtungen einer neutralen Erzählstimme wird.

      Eine allgemeine Folgerung Stillers zu den Unterschieden der beiden Versionen sei noch erwähnt. Diese betrifft das Verhältnis von Änderungen auf der Wortebene: „Insgesamt lassen sich 187 Fälle registrieren, in denen in B ein einzelnes Wort gegenüber dem Text von A getilgt ist, während die benachbarten Ausdrücke beibehalten oder allenfalls modifiziert sind.“6 Unter anderem anhand solcher Streichungen soll meine Lektüre den Nachvollzug des Nachtdenkens als entgrenzendes, Differenzen verschiebendes oder neutralisierendes Sprachwalten ermöglichen, das in TO2 von Blanchot in den Vordergrund gerückt wird.

      0.3 Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version

      Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur (= TO2) bildet die Basis meiner Überlegungen, da sich in ihr im Vergleich zur älteren Version eine Radikalisierung des Nachtdenkens abzeichnet.1 Radikalisierung meint hier, dass die struktur- und handlungsbeeinflussende Gewalt der anderen Nacht in der jüngeren Version des Textes greifbarer, weil von Blanchot daraufhin zugespitzt, ist. Die implizite Dunkelheit von TO1 wird in TO2 auf der Ebene der Darstellung verstärkt. Dies bedeutet, dass der Text von TO2 nicht nur inhaltlich und durch schwere Lesbarkeit als Nachtdenken zu bezeichnen ist, sondern sich fast emphatisch metasprachlich dazu bekennt. Es findet eine Verdichtung und Verschiebung als Grundstruktur der Radikalisierung der anderen Nacht insbesondere auf der Ebene des discours statt. Die metasprachlichen Eingriffe werden durch die Überarbeitung der ersten Version umso deutlicher, da die Kürzungen hauptsächlich Weltbezüge betreffen, die in TO2 einer verstärkten Performanz des Diskursiven weichen. Daher wird von TO2 ausgegangen und – wo es für meine Thesen notwendig ist oder andere Bezüge ermöglicht – die ältere Version kontrastierend sowie erweiternd zur Sprache gebracht. Hinsichtlich des Nachtdenkens als eines wiederkehrenden Bezugspunkts meiner Lektüre von Thomas l’Obscur kann so auch ein strukturelles Moment fruchtbar gemacht werden. Das 50-jährige Verschwinden der ersten Fassung hinter der zweiten aufgrund der schon angedeuteten schwierigen Rezeptionsgeschichte, die Blanchot nolens volens vielleicht auch mit der Alternative einer Kurzfassung beflügelt hat, soll als Ausdruck einer der wichtigsten Verschiebungsbewegungen im Schreiben Blanchots gelesen werden: der Selbstverdunklung der Nacht hin zur anderen Nacht. In einem Vorgriff auf das 2. Kapitel kann man daher von einer Bewegung der Kryptierung sprechen, mit der sich die Rezeption von TO2 entgegen der paratextuellen Leseanweisung Blanchots über TO1 gelegt und TO1 in sich eingeschlossen hat.

      Mein Ansatz, von TO2 auszugehen und TO1 dennoch in den Textkommentar einzubeziehen, weiß um diese 50-jährige Verdeckung. Es kann jedoch nicht im Sinne eines Ursprungsdenkens um eine Rehabilitierung der vernachlässigten älteren Fassung gehen, sondern stattdessen um die Bezugnahme von TO2 auf TO1 als Ausdruck einer verdoppelten Dunkelheit des Titels Thomas l’Obscur. Die Wiederholung des Titels unter Beibehaltung beider Fassungen wird zur Meta-Dunkelheit, deren begriffliche Fassung Blanchots ‚autrenuit ist.

      Der Beiname „der Dunkle“ verbindet Thomas mit dem Beinamen „ho skoteinos“ (der Dunkle) des Vorsokratikers Heraklit. Ob dessen Beiname von seiner Vorliebe für Paradoxa und Fragmentarisches herrührt oder von seiner Methode, bereits Gedachtes neu zu perspektivieren, ist nicht geklärt. Martin Heidegger setzt in seinen Vorlesungen über Heraklit gegen Hegel wie auch Cicero eine ganz eigene Interpretation dieses Beinamens: „Er [Heraklit, Anmerkung der Verfasserin] ist der ‚dunkle‘ Denker, weil er, anfänglicher als die anderen, in dem Zu-denkenden dasjenige denkt, was darin das ‚Dunkle‘ genannt werden kann, insofern er den Grundzug hat, sich zu verbergen.“2 Heraklit wird von Heidegger in seiner Dunkelheit an den Anfang der abendländischen Philosophie gesetzt. Während Heidegger einerseits den verbergenden Aspekt des Heraklit’schen Denkens so weit wie möglich ergründen will – auf das Problem der Gründung werde ich im 2. Kapitel eingehen –, scheint Blanchot mit den beiden gleich-gültigen Fassungen unter dem Namen Thomas l’Obscur der Frage nach Ursprung und Originalität eine Absage zu erteilen. Er führt diese Frage in die unendliche Bewegung zwischen den beiden Fassungen – eine Bewegung, die jedoch erst mit dem Paratext von TO2 auf eine metatextuelle Ebene gebracht wird.

      0.4 Makrostrukturelles

      Den Inhalt der 2. Version von Thomas l’Obscur wiederzugeben, ist beinahe unmöglich und muss sich den Vorwurf einer Reduktion, aber auch der Verfälschung gefallen lassen. Rainer Stillers hat dennoch versucht, die Handlung von TO2 mit den folgenden Worten zu beschreiben:

      Thomas, ein Mann unbestimmten Alters und unbekannter Herkunft, lebt, augenscheinlich isoliert und unter der Kommunikationslosigkeit der Umwelt leidend, in einem Hotel an der Küste. Dort lernt er Anne kennen, eine junge Frau, deren Vergangenheit ebenfalls nicht erzählt wird. Anne versucht bei ihren Begegnungen, Spaziergängen und Unterhaltungen