Dieses Zeigen des Nicht-Zeigens nimmt zahlreiche Formen in Thomas l’Obscur an. In allen Fällen kollabiert dabei die Ebene des Zeichens. Dieses Kollabieren und Zerschreiben der Sprache durch die Sprache lese ich in meiner Arbeit als Nachtdenken, d.h. als Denken der anderen Nacht, wie ich sie zu Beginn erklärt habe. Der Vorteil der Denkfigur der anderen Nacht im Gegensatz zum Begriff der Selbstimplikation ist, dass sie in der Anordnung dieser beiden Worte, ‚autre‘ und nuit, schon zeigt, was selbstimplikatives Sprechen ist.
Soma und Affizierung
Mit zunehmender Vertiefung in Blanchots Werk kristallisierte sich ein Zugang zu Thomas l’Obscur heraus, der das Somatische, das Materielle, aber auch das Mediale und die Affizierung immer wieder als Ausgangs-, oder Zielpunkte der Lektüren der einzelnen Kapitel in den Blick nahm. Mein Ansatz ist insofern als phänomenologisch-konstruktivistisch zu bezeichnen, als er die Erfahrung und Variabilität von Welt als Resultat der Wahrnehmung in den Vordergrund setzt. Indessen gehen damit keinerlei ontologische Setzungen einher. Die Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys bildet in meiner Lesart von Thomas l’Obscur eine wichtige Grundlage, insbesondere bezüglich der verhandelten Blickkonzeption, wenngleich dies nur einer von diversen Textzugängen ist. Denn Blanchot geht, mit Edmund Husserl gesprochen, in Thomas l’Obscur seinen ganz eigenen Weg „zu den Sachen selbst“. In Thomas l’Obscur haben wir es mit einem Text über Leiblichkeit im Angesicht des Todes als Abstoßung vom geistfixierten Subjektdenken der abendländischen Philosophie zu tun.
Der Tod ist das Ereignis des Unfassbaren schlechthin. Das Schreiben über den Tod, d.h. Blanchots Art, den Tod zu schreiben, ist ein Denken der anderen Nacht, die als als Medium und Unvordenkliches, d.h. als etwas, was Ermöglichungsgrund und Ermöglichungsraum ist, zwischen Leib und Bewusstsein gesetzt wird. Die andere Nacht Blanchots generiert sich aus dem ewigen Aufschub des Denkens und auch des Schreibens, den der Tod provoziert. Konzepte wie das Offene, das Außen, il y a, die psychoanalytische Krypta, mystische sowie neomystische Denkfiguren, lassen sich alle über die andere Nacht in ihrer radikalen Exteriorität verbinden. Mit ihr verweisen sie im Falle Blanchots, den qua Unsichtbares insbesondere die Nacht hinter der Nacht interessiert, die ‚autre‘ nuit, auf eine ganz spezielle Art, das Verhältnis von Körper und Geist, von Buchstaben und Bedeutungen zu lesen. Entscheidend ist dabei, dass dies eine Absage an jedwede Geschlossenheit und fixierbare Ordnung bedeutet, sofern jedes Gefühl und jeder Gedanke als Wahrnehmung vermittelt Veränderungen evozieren, die sich nur partiell an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Ein nicht geringer Teil geschieht unter der sichtbaren Textstruktur und zeitigt Effekte der Selbstaffizierung an unvorhergesehenen Orten und Stellen.
Dies ermöglicht es, eine oder mehrere Verbindungslinien zwischen Blanchots Nachtdenken in Thomas l’Obscur und Affizierungstheorien zu ziehen. Letztere hat Michaela Ott in bemerkenswerter Weise in ihrem Buch Affizierung – Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur gebündelt. Sie profiliert darin mit starker Gewichtung des Affizierungsdenkens von Gilles Deleuze und Félix Guattari Affizierungsprozesse als Basis jedweden Denkens oder Handelns. Unterschieden wird das Affektive in Affekte, Affektion „als körperlich-seelische Vermittlung“ und Affizierung „als subjektkonstituierender Vorgang“.1 Eine grundlegende Eigenschaft des Affektiven ist es nach Ott, auf zweierlei Ebenen zu wirken, nämlich auf der Ebene der „Repräsentation“ sowie der Ebene der „Performanz“. Dieses doppelte Operationsfeld des Affektiven, das von „nicht-sichtbaren, aber zu erschließenden dynamischen Vorgängen Zeugnis ablegt“,2 wird auch in meinem Kommentar zu Thomas l’Obscur herangezogen, um unterschiedliche Wirkweisen und Erscheinungsformen der Sprache zu benennen und sie als Effekte der anderen Nacht auszuweisen.
Diese Effekte resultieren aus dem permanenten Versuch Blanchots, sich via Sprache dem Tod zu nähern bzw. die Sprache dem Tod zu nähern. Er spielt in Thomas l’Obscur unzählige Varianten durch, um mit der Sprache die Sprache in ihrem Bedeuten zu zerschreiben, z.B. indem er metaleptisch Vorder-, und Hintergrund vertauscht, Perspektiven so überschneidet, dass sie ihre Zuordnung verlieren, indem er das Ursache-Wirkungs-Prinzip verunklart, Subjekt-Objekt-Besetzungen in ihrer Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit zusammenbrechen sowie in Abundanz Motive in den Text einfließen lässt, nur um sie wieder zerstückelt fallen zu lassen und mit anderen zu überschreiben. Das Zusammenspiel dieser Strukturen bewirkt eine Bewegung infiniten Regresses, die in die ewige Differenz der anderen Nacht führt oder ihr entspringt, je nachdem wie man sich dieser zyklischen Struktur ohne Anfang und Ende unzureichend zu nähern gedenkt. Mit Sätzen, die ein ständiges Anhalten, Überlegen und Wieder-Lesen erzwingen, erweist sich Thomas l’Obscur in seinen beiden Fassungen als ein Text, der nicht aufhört von sich zu sagen, dass man ihn in all seiner Buchstäblichkeit und Körperhaftigkeit lesen und ihn beim Wort nehmen muss, um von dort aus der sprachlichen Affektlogik zu folgen, die ihresgleichen sucht. Inspiriert hat sie viele, nicht zuletzt Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida. Möge nun der Leser des vorliegenden Textes sich auch dazu inspirieren lassen, einer gemeinsamen Lektüre von Thomas l’Obscur mit Genuss zu folgen:
„Meinem Leser.
Ein gut Gebiss und einen guten Magen –
Diess wünsch’ ich dir!
Und hast du erst mein Buch vertragen,
Verträgst du dich gewiss mit mir!“
Friedrich Nietzsche
0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen
0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum
Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen.1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung stattfinden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur, die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Romans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948:
J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau.2
Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger bestehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte