Darüber hinaus gibt es in der mittlerweile üppigen Blanchot-Forschung bislang keine derartige Lektüre. Viele Forschungsansätze sind eher dadurch gekennzeichnet, dass sie aus dem Kontext gerissene Sätze aus Blanchots Thomas l’Obscur relativ isoliert interpretieren, ohne dabei den Nebenspuren und dem jeweiligen Kontext in seinem Verlauf zu folgen, was jedoch meines Erachtens für die omnipräsente Doppelbödigkeit der Sprache Blanchots äußerst wichtig wäre und was sich meine Untersuchung folglich zum Ziel gesetzt hat. So entspricht jede Kapitelziffer meines Buches chronologisch einem Kapitel von Thomas l’Obscur. Die Anzahl der insgesamt 12 Kapitel ist infolgedessen das Resultat der 12 Kapitel des von Thomas l’Obscur in seiner Fassung von 1950.5
Thomas l’Obscur dient dabei als Plateau, von dem ausgehend Fluchtlinien und Querverbindungen gezogen werden. Dies impliziert auch, dass Thomas l’Obscur eine Art Basisstation formt, von der aus und zu der hin stetig gedacht wird. In Anlehnung an den Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari soll auch die Kapitelstruktur der Studie funktionieren: als Plateaus, die tendenziell unendlich weitergeschrieben werden können, die nicht hierarchisch geordnet, sondern in ihrer Abfolge Konsequenz des untersuchten Textes, und deren Relationen zueinander beweglich und verschiebbar sind. Das wesentliche Ordnungsprinzip der Arbeit geht dabei vom Untersuchungsgegenstand selbst aus: Es sind dies die mehrmaligen Durchgänge durch die Nacht, die ein wichtiges Strukturelement des Textes formen. Sie verlaufen auf der Ebene der Kapitel durchaus in einer gewissen Chronologie, als zyklische Sukzession von mittags, nachmittags, abends und nachts. Dieser Bewegung folgt meine Lektüre. Sie nimmt das Segmentierungsangebot des Textes ernst, indem sozusagen an den Kapiteln von Thomas l’Obscur ‚entlang geschrieben‘ wird, sie verfolgt sodann aber auch die Brüche dieser Makrostruktur, von denen es unzählige gibt. Diese Brüche verlaufen teilweise quer durch die Kapitel und kreieren eine Art Ungrund des Textes.
Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Text Thomas l’Obscur in seiner zweiten Fassung von 1950. Im Sinne der Einheit von Gegenstand und Methode wird von ihm ausgegangen und anderes Textmaterial mit einbezogen, um ihn zu lesen und ein bestimmtes Nachtdenken herauszuarbeiten, das ich in ihm dominant verhandelt sehe. Das zusätzliche Material setzt sich aus anderen Texten Blanchots zusammen – sowohl literaturkritisch-philosophischen (darunter Texte aus den Sammlungen L’espace littéraire, Faux Pas, De Kafka à Kafka, L’entretien infini) wie auch literarischen Schriften (darunter La folie du jour, Aminadab oder L’instant de ma mort), Texten von Autoren, die er rezipiert hat (Pascal, Hegel, Heidegger, Husserl, Rilke, Novalis, die Gebrüder Schlegel, Nietzsche, Thomas Mann, Kafka), Texten von Zeitgenossen, mit denen er im Austausch stand (Levinas, Sartre, Derrida, Bataille, Merleau-Ponty), Autoren, die über ihn geschrieben haben (Foucault, Deleuze) und schließlich der Bibel, die einen wesentlichen Referenztext bildet.
Thomas l’Obscur mit diesen anderen Texten zu lesen, bedeutet, die Lektüre mit den aus dieser Annäherung entstehenden Resonanz- oder Dissonanzeffekten anzureichern und im Nachvollzug eines Nachtdenkens zentrale Theoreme Blanchots in einem größeren Denkraum zu verorten. An einigen wenigen Stellen wird weiteres Gedankengut hinzugefügt, bei dem ich, von Thomas l’Obscur ausgehend, historischen oder systematischen Klärungsbedarf hinsichtlich bestimmter Motive oder Denkfiguren gesehen habe. Die Theorien werden nicht um ihrer selbst willen, sondern funktional in die Lektüre einbezogen, was mitunter eine methodische Konsequenz des Anreißens einiger großer Denkgebäude, die für sich genommen jede schon einer eigenen umfassenden Untersuchung würdig wären, bewirkt. Jedoch: Um mit einem Text sorgfältig und behutsam umzugehen, muss notwendigerweise anderen Texten Raum vorenthalten werden. Elemente werden ihnen entnommen und – bezogen auf Thomas l’Obscur – in einen neuen Kontext gebracht. Der Grund einer Vielfalt unterschiedlichster Theorien entspringt zum einen der unglaublichen Belesenheit Blanchots, die sich in einem gewaltigen Œuvre ausdrückt und insbesondere in Thomas l’Obscur vielerorts zum Vorschein kommt, ja hier geradezu eine Keimzelle der späteren literaturtheoretischen Texte bildet. Zum anderen sind die Fluchtlinien zu anderen Philosophen und Theoretikern darin begründet, dass bei Blanchot literarisches und philosophisches Schreiben stetig ineinander übergehen bzw. in ihrer Verschmelzung einen ganz eigenen Duktus entwickeln.
Thomas l’Obscur wird in der Folge auch als ein Zeugnis diverser Auseinandersetzungen Blanchots mit seiner Zeit gelesen. Diese Zeit – von den Anfängen der Arbeiten an der ersten Version des Textes Anfang der 1930er Jahre bis hin zur Veröffentlichung der zweiten Fassung 1950 – umfasst historisch die Phase des 2. Weltkrieges und seine unmittelbaren Nachwirkungen. Die in Thomas l’Obscur verhandelte Erfahrung des Todes lässt sich meines Erachtens nicht ohne das Wissen um die Gräuel des Nationalsozialismus, das Faktum der Massengräber und das kollektive Trauma des Holokausts nachvollziehen. Ein Bewusstsein ob dieser unverarbeitbaren Ereignisse muss jeder Lektüre des Textes anhaften, zumal einer, in der es darum geht, die existentialphilosophischen, phänomenologischen, mystischen, religionskritischen, psychoanalytischen und verantwortungsethischen Einflüsse anderer Denker in die Auseinandersetzung mit Thomas l’Obscur einzubeziehen. Der Text entscheidet sich nicht für einen dieser Einflüsse, den man folglich als Haupteinwirkung lesen könnte. Er entwickelt sich vielmehr an den für den Tod bzw. die damit aufs Engste verbundene Struktur der anderen Nacht relevanten Punkten dieser Theorien entlang, deren gemeinsamer Nenner eine bestimmte Form der Leiblichkeit zu sein scheint, ein Wiederbeleben des Somatischen und eine Kritik am Subjektdenken der abendländischen Philosophie. Es ist angesichts der geschichtlichen Zäsur durch den 2. Weltkrieg kein Zufall, dass Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty, Martin Heidegger, Jacques Lacan, Ernst Cassirer, aber auch Elias Canetti sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt mit der Wahrnehmung als Wirklichkeitszugang auseinandersetzen. Mit dieser Wiederentdeckung der Sinne und des Körpers erfolgt eine Neuauflage der Nacht als Erfahrungsraum, in dem die visuelle Wahrnehmung zu Gunsten anderer Kanäle, vor allem aber zu Gunsten des Imaginären, eingeschränkt ist und neue Wege, die zerstörte und aus den Angeln gerissene Welt zu erfassen, gesucht werden.
A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur – Soma, Selbstimplikation und Affizierung
Der Tod ist ein widerspenstiges Thema.1
Thomas Macho
Wie kann man über den Tod sprechen ohne ihn diskursiv zu vereinfachen? Diese Frage lässt sich möglicherweise in Analogie zur Frage des Sprechens über Gott beantworten: gar nicht oder wenn, dann nur unzulänglich. Schon François de La Rochefoucauld schrieb in seinen Maximes: „Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement.“2
Maurice Blanchot hat dennoch das Unmögliche gewagt: Sein Werk kann man als unendlichen Versuch lesen, sich der Erfahrung des Todes über die Sprache zu nähern. Sein Denken widmet sich dabei weniger der Betrachtung des hellen Sonnenlichts, als vielmehr der dunklen Nacht, die sich jedoch ebenso unmöglich direkt anblicken lässt wie Sonne und Tod in der eben genannten Sentenz La Rochefoucaulds. Die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur nehmen dabei eine Sonderrolle innerhalb des Werkes von Blanchot und der Behandlung des Todes ein, denn in ihnen wird nicht nur über den Tod reflektiert. Der literarische Text wird selbst zur Todeserfahrung. Die Todeserfahrung im Speziellen und mit ihr in etwas abgeschwächter Form diverse Grenz-, und Transgressionserlebnisse sind nicht nur inhaltlich zentral in Thomas l’Obscur, sondern sprachlich performativ angelegt, insofern als sich erzählte Erfahrungen auf die discours-Ebene auswirken und so eine Erzählweise generieren, deren Verortbarkeit sich äußerst schwierig gestaltet. Die Erfahrung der Figuren wird zur Form des discours und dieser zum affizierten Eintrittstor des Lesers, was wiederum von Letzterem verlangt, dass er sich auf diese Performanzästhetik auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen einlässt und dabei Abschied nimmt von jeglicher Mimesisästhetik.3
Hinter vielen zunächst schwer verständlichen, von Jean-Paul Sartre als phantastisch bezeichneten, Satzkonstruktionen hochfiktiven Charakters in Thomas l’Obscur stecken selbstreferentielle Äußerungen der Sprache. Sofern der Inhalt unmittelbar auf die Vermittlungsebene übergreift, wird diese sichtbar, stellt sich als Sichtbares vor den dadurch verdeckten Inhalt und erfordert gerade in ihrer Ausstellung der Selbstbezüglichkeit die permanente Wachsamkeit des Lesers.