Nachtdenken. Martina Bengert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Bengert
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300397
Скачать книгу
begreifen.1

      Dazu ist anzufügen, dass Thomas nicht grundlos an der Kommunikationslosigkeit seiner Mitmenschen leidet, sondern geprägt ist von Grenzerfahrungen, die ihm das Weiterleben unter Menschen erheblich erschweren. Ob er Anne erst im Hotel kennenlernt, ist nicht mit Eindeutigkeit zu behaupten. Anne versucht in der Tat zu begreifen, wer Thomas ist, doch hängt dies meines Erachtens mit ihrer schon bestehenden Krankheit zusammen, die sie erst mit der Möglichkeit und dann mit der Realität des Todes konfrontiert.

      Die Kapitelanfänge bieten als Koordinaten einer Handlung, die man als äußere Handlung bezeichnen kann, eine Minimalorientierung. Den Beginn des 8. und 9. Kapitels ausgenommen – hier wird eine nicht beendete Erfahrung der Nacht weitererzählt und somit eine starke Verbindung zum vorangegangenen Kapitel hergestellt, wodurch die Kapitelgrenze aufweicht –, bewegt sich der erste Satz in allen anderen Kapiteln noch auf einer Ebene der Aussage, d.h. noch nicht auf der Ebene der Wahrnehmung einer ortlosen Erzählstimme. Das zeigt sich auch an der Kürze der Anfangssätze der Kapitel 1–5 sowie 10–12. Die Geschichte, nur anhand des jeweils ersten Satzes eines jeden Kapitels erzählt, läse sich wie folgt:

      Thomas s’assit et regarda la mer. […] Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelque pas. […] Il revint à l’hôtel pour dîner. […] Thomas demeura à lire dans sa chambre. […] Vers le milieu de la deuxième nuit, Thomas se leva et descendit sans bruit. […] Anne le vit s’approcher sans surprise, cet être inévitable en qui elle reconnaissait celui qu’elle aurait vainement cherché à fuir, qu’elle rencontrerait tous les jours. […] Anne vécut quelques jours de grand bonheur. […] C’est dans cet état nouveau que, se sentant devenir elle-même une réalité énorme et incommensurable dont elle nourrissait son espérance, à la manière d’un monstre dont personne, pas même elle, n’aurait eu la révélation, elle s’enhardit encore et, tournant autour de Thomas, finit par attribuer à des motifs de plus en plus faciles à pénétrer les difficultés de ses relations avec lui, pensant par exemple que ce qui était anormal, c’est qu’on ne pût rien savoir de sa vie et qu’il restât, en toutes circonstances, anonyme et privé d’histoire. […] Quand elle revint au jour, cette fois tout à fait privée de paroles, refusant une expression aussi bien à ses yeux qu’à ses lèvres, toujours étendue sur le sol, le silence la montra à ce point unie au silence qu’elle l’embrassait furieusement comme une autre nature dont l’intimité l’aurait soulevée de dégoût. […] Quand on la découvrit étendue sur un banc du jardin, on la crut évanouie. […] Lorsque Anne fut morte, Thomas ne quitta pas la chambre et il parut profondément affligé. […] Thomas s’avança dans la campagne et il vit que le printemps commençait.

      Inhaltlich kann man an diesen 12 Kapitelanfängen erkennen, dass die Bewegung von Thomas und Anne im Raum eine Verbindung zwischen den Kapiteln schafft, wenngleich die Kapitel durch den jeweiligen Raumwechsel zu differenzieren sind. Zu Beginn sitzt Thomas am Meer, dann kehrt er diesem den Rücken zu, um in ein Wäldchen zu gehen. Von dort geht er zurück ins Hotel, sodann befindet er sich in seinem Zimmer, um dann im nächsten Kapitel hinunterzugehen und sich schließlich Anne zu nähern. Die Kapitel 7 bis 10 rücken Anne und ihren Todeskampf ins Zentrum und bilden, so meine These, eine eigene Einheit innerhalb der 12 Kapitel des Textes. Im 11. Kapitel bleibt Thomas nach Annes Tod im Zimmer der Verstorbenen, bevor er im letzten Kapitel zu einem Marsch aufbricht, der ihn nicht nur über das Meer mit dem Geschehen des 1. Kapitels verbindet.

      Die wichtigste Makrostruktur von TO2 ist die Nacht. Die bezeichenbare Nacht fungiert als Struktur, die andere Nacht als Bewegung infiniter Regresse und unabschließbarer Entfremdung und Entwerdung. Während die Abläufe der Kapitel 1–3 noch mit einer Abfolge von Tag und Nacht kompatibel sind, bricht spätestens mit dem 4. Kapitel von TO2 über die andere Nacht eine andere Zeitschicht in den Text und überlagert fortan das Erzählen, welches sich dann nicht mehr als ein lineares Geschehen zusammenhalten lässt.

      Neben der Nacht bzw. der anderen Nacht formt sich eine weitere Makrostruktur über den Rhythmus von Eintritt und Austritt. Jedoch stellt diese eine Bewegung dar, die gerade die Konnotation von Innen und Außen sowie von ‚geschlossen‘ und ‚offen‘ durchkreuzt. Eine Bewegung von Eintritt und Austritt zeigt sich in jedem Kapitel auf eine andere Weise: im 1. Kapitel als Eintauchen ins Meer und Eingang in einen „heiligen Raum“ und dem Wiederaustritt nach der Grenzerfahrung, im 2. Kapitel als Abstieg in die Krypta, aus der der Austritt nicht ebenso deutlich vollzogen wird. Dies spricht dafür, diese Erfahrung der anderen Nacht als eine zu lesen, die sich über das gesamte Buch erstreckt. Das 3. Kapitel beginnt mit dem Eintritt in den Speisesaal des Hotels und endet mit dem Verlassen desselben. Zu Beginn des 4. Kapitels hat Thomas bereits sein Zimmer betreten, begibt sich aber sodann in die Matrix der Wörter. Gleich zu Beginn des 5. Kapitels wird ein Abstieg in die Nacht beschrieben, der sich später im Kapitel als Sturz in das selbst geschaufelte Grab wiederholt, aus dem Thomas wieder aufersteht. Auch in den anderen sieben Kapiteln wird diese Struktur beibehalten. Neben dem stets damit verbundenen Zustandswechsel ist es die Struktur des Diesseits (Oberwelt) und Jenseits (Unterwelt), zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst und Anderem, die wiederkehrend verhandelt wird. Dabei gerät jedoch die binäre topologische Ordnung ins Schwanken, wodurch sich die etablierten Unterscheidungen invertieren und wechselseitig durchdringen.

      Auf die inhaltlichen Makrostrukturen wird im Laufe der Arbeit über Blanchots Bezugnahme auf andere Texte in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. Dabei soll es wesentlich um die Deklination wiederkehrender Motive und Denkfiguren wie unter anderem des Meeres, des Abgrunds, des Blicks, des Begreifens, der Unterwelt, des Weges, der Begegnung, der Ähnlichkeit und der Wiederholung sowie der Wunde gehen.

      1. Mikroskope – Berührung auf Entfernung

      Das 1. Kapitel meiner Arbeit widmet sich zunächst noch einmal dem Paratext, der TO2 vorangestellt ist, und auf den bereits eingegangen wurde. Der Fokus wird zunächst auf den ersten drei Worten, „il y a“, liegen, die mehr als eine einfache Bezeichnung von etwas Vorhandenem ausdrücken. Der Begriff il y a kann als französische Lesart von Heideggers es gibt verstanden werden. Daher wird die Klärung der Positionierung und Bedeutung dieses existenzialphilosophisch und phänomenologisch geprägten Begriffs, der vor den eigentlichen Textanfang von TO2 gesetzt ist, Aufschlüsse über die Verortung Blanchots zwischen Levinas und Heidegger geben. Im Anschluss lese ich das Kapitel als eine Initiationserfahrung, die von transgressiven Bewegungen des Textes durchkreuzt wird. Die Erfahrung des Protagonisten Thomas soll dabei als eine innere Entgrenzungserfahrung im Sinne Georges Batailles nachvollzogen werden.

      1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas)

      Imaginons le retour au néant de tous les êtres: choses et personnes. Il est impossible de placer ce retour au néant en dehors de tout événement. Mais ce néant lui-même? Quelque chose se passe, fût-ce la nuit et le silence du néant. L’indétermination de ce „quelque chose se passe“, n’est pas l’indétermination du sujet, ne se réfère pas à un substantif. Elle désigne comme le pronom de la troisième personne dans la forme impersonnelle du verbe, non point un auteur mal connu de l’action, mais le caractère de cette action elle-même qui, en quelque matière, n’a pas d’auteur, qui est anonyme. Cette „consumation“ impersonnelle, anonyme, mais inextinguible de l’être, celle qui murmure au fond du néant lui-même, nous la fixons par le terme d’il y a.1

      Emmanuel Levinas

      Zu Beginn meines 1. Kapitels möchte ich auf den Anfang von TO2 eingehen. Dieser Anfang der nouvelle version markiert gleichzeitig eine Mitte zwischen zwei Versionen, in die sich der Paratext schiebt, wie es in Punkt 0 erläutert wurde. Bevor also der ‚eigentliche‘ Text einsetzt, kündigt sich ein Paratext an, der mit den Worten „Il y a […]“2 beginnt und den Leser der zweiten Version darauf hinweist, dass der Anfang des Textes Thomas l’Obscur woanders liegt bzw., dass die Frage des Anfangs sich unentschlossen zwischen den beiden Versionen bewegen muss. Il y a – drei Lexeme, die man leicht überliest oder in ihrer Einfachheit nicht ernst nimmt. Als Incipit gesetzt, verdienen sie jedoch mehr Aufmerksamkeit.

      So