Nachtdenken. Martina Bengert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Bengert
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300397
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philosophisch brisante Figur der Grenzüberschreitung2, wird damit doch der Übergang vom Ufer ins Wasser, vom Gekerbten ins Glatte (um mit Gilles Deleuze und Félix Guattari zu sprechen), nicht als komplizierter Prozess dargestellt, sondern vielmehr als ein kontingentes Ereignis. Da das glisser als Gleiten des Signifikanten in der französischen Philosophie, z.B. bei Jacques Lacan, Georges Bataille oder Jacques Derrida eine wichtige Metapher ist, lässt sich das Gleiten, neben dem inhaltlichen Geschehen eines Mannes, der zum Schwimmen ins Meer taucht, als einen performanzästhetischen Hinweis auf eine nun folgende Sprachlichkeit lesen, deren Sinn nicht fixiert werden kann.3 Anhand von Thomas’ Erfahrungen der Subjektentgrenzung im Wasser, seinem Taumeln und seiner Haltlosigkeit, verweist die Sprache zugleich auf sich selbst als eine gleitende Sprache, die sich zwischen Sinnzuschreibungen bewegt, ohne sich fixieren zu lassen. Ein Beispiel für dieses Gleiten wäre das bereits genannte „comme si“, aber auch das Verhältnis der Wellen zu Thomas, in dem sich bereits ein fließender Übergang zwischen Subjekt und Objekt bemerkbar macht. Das Gleiten ohne Haltepunkte stellt eine Kontinuitätserfahrung dar, in der Einheit nur über Entgrenzung möglich ist. Gleiten, Erfahrung, Überschreitung und Grenze bilden nicht nur wichtige Punkte im 1. Kapitel von TO2, sondern durchziehen den Text bis zu seiner letzten Seite.

      Um das Gleiten Thomas’ von der Ebene der histoire auf die Ebene einer metaliterarischen Leseanweisung für Thomas l’Obscur zu heben, möchte ich es nun mit den Begriffen der inneren Erfahrung, der Transgression und der Grenze bei Georges Bataille verknüpfen.

      Innere Erfahrung als Transgression

      Mit der „expérience intérieure“ würde Bataille eine mystische Erfahrung bezeichnen, wenn diese Art der Erfahrung nicht konfessionelle Bindungen in sich trüge. Die innere Erfahrung ist nach Georges Bataille ekstatisch und unsicheren Ausgangs. Sie untergräbt das Wissen wie das Sein an sich1, vor allem aber verlangt sie von ihrem Ausdruck, dass er sie nicht abbilde (was sie verfehlen würde), sondern sie vollziehe: „L’expression de l’expérience intérieure doit de quelque façon répondre à son mouvement, ne peut être une sèche traduction verbale, exécutable en ordre.“2 Daraus kann man schließen, dass die innere Erfahrung dem Denken und der Sprache abverlangt, sich ihr gewissermaßen hinzugeben, d.h. feste Standpunkte aufzugeben und in ein Gleiten zu kommen, das eine innere Entgrenzung ermöglicht. Analog zur mystischen Erfahrung, jedoch abzüglich all ihrer Glaubensprämissen, bedeutet die innere Erfahrung, wie Blanchot in seinem Artikel zu Batailles 1943 publiziertem Werk L’expérience intérieure formuliert, einen „état de violence, d’arrachement, de rapt, de ravissement […] ‚perte de connaissance‘ extatique“.3 Nur wenn Sprache und Denken auch vor sich selbst keinen Halt mehr machen und in ein unkontrollierbares Gleiten jenseits der Innerlichkeit kommen, kann es über die Transgression zu einer Kontinuitätserfahrung, sprich zum Selbstverlust kommen. Im Gegensatz zur überschreitenden Transzendenzerfahrung im religiösen Kontext, die zumeist mit einer gen Gott gerichteten Elevation korrespondiert, beschreibt Bataille jedoch ein „model of immanent transgression“4, das folglich den Selbstverlust in der Immanenz und nicht in der Transzendenz sucht.

      Der Begriff der Transgression referiert auf eine Grenzüberschreitung, die erst durch das die Grenze festlegende Verbot der Überschreitung geschehen kann. Eine der wirkmächtigsten Interpretationen dieser von Bataille wesentlich etablierten Denkfigur liefert Michel Foucault in seinem 1963 erschienenen Artikel „Préface à la transgression“.5 Grenze und Überschreitung sind in seiner Lektüre Batailles unaufhaltbar miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Mich interessiert für den Gebrauch des Begriffs der Transgression die sprachphilosophische Dimension dessen, was hinter der Dialektik von Grenze und Überschreitung steckt und worauf Foucault in seiner Bataille-Lektüre beständig hinweist. Gesucht wird ein Denken der nicht-positiven Bejahung, welches Foucault mit Blanchot und dessen Begriff der „Bestreitung“ (contestation) verbindet. Es geht Foucault um eine nicht-dialektische oder entdialektisierte Sprache, ein „Denken des Außen“, ein Denken an der äußersten Grenze, wie er dann 1966 in seinem Aufsatz „La pensée du dehors“ über Blanchot formulieren wird.

      Was ist darunter zu verstehen? Zunächst eine Sprache, die sich der Eindeutigkeit entzieht. Dieser Entzug kann und sollte auf verschiedenen Ebenen passieren. Foucault findet dafür in Bezug auf Batailles Sprache den Term „Entkopplung“ (décrochage). Entkoppelt werden muss alles, was irgendwie hierarchisch-ordnungsbildend wirken könnte: die Einhaltung von bestimmten Textsorten- oder Gattungen, Ebenen des Sprechens, des Tempus oder der Referenz. In all diese Einteilungen und Bezüge werden Wechsel und Abbrüche eingelassen, die klare Zuordnungen und Interpretationen erschweren und damit stetig den Glauben an das philosophische Subjekt in dessen Aporie treiben. Die Paradoxie der Sprache ist und bleibt, dass sie der „einzige Kommunikationsmodus der Grenzerfahrungen“ ist und zugleich auch die Unerreichbarkeit und Uneinholbarkeit des sich Entziehenden offenbaren muss.6

      Die von Thomas ausgeführte Bewegung des Gleitens kann in der Forderung einer sich, wie soeben beschrieben, performativ vollziehenden Sprache unter anderem bedeuten, dass der Text den Leser indirekt anspricht und ihm als Lesehinweis für die Lektüre des Textes Thomas l’Obscur auferlegt, wie Thomas den sicheren Boden der Betrachtung zu verlassen, um sich in die Bilderflut des Textes mit all seinen Wirbeln und Abgründen zu begeben und sich folglich auf die eigene innere Erfahrung einzulassen. Der Übergang vom Ufer ins Meer, d.h. von der Erde ins Wasser, korrespondiert einer Transition von der Betrachtung und Bewegungslosigkeit in die Mobilität des Schwimmens und der Selbstexposition in der Berührung. Wie meine Lektüre zeigen wird, ist damit zudem ein Anfang für eine bestimmte Art von Grenzerfahrung in jeglicher Hinsicht gemacht, die der Roman paradigmatisch durchdekliniert.

      Immersion und Offenes

      Initiatorisch empfangen wird Thomas vom Wasser mit einer Taufe, indem er sogleich von Strudeln untergetaucht wird. Abermals wird das Erzählte verunklart, indem einerseits Thomas als guter Schwimmer dargestellt und vom Meer behauptet wird, dass es ruhig sei, während andererseits die „remous“ eine stürmische See evozieren. Dieser Gegensatz lässt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, dass Thomas an diesem Tag „einen neuen Weg gewählt hatte“.1 Dieser neu eingeschlagene Weg verweist auf eine Kopplung von innerer Wahrnehmung und äußerem Geschehen, durch die im Laufe des Kapitels eine zunehmende Überlagerung und Vermischung geschieht. Den neuen Weg lese ich als Entscheidung, sich einer ekstatischen Erfahrung des Offenen gänzlich auszusetzen.2

      In TO1 ist Thomas’ Entschluss, die bekannten Regionen an diesem Tag zu verlassen und sich in das Unbekannte vorzuwagen, deutlicher ins Aktive verlagert. Dort heißt es nach der Feststellung, dass er ein guter Schwimmer ist: „Il n’avait donc pas à s’inquiéter […] quoique le but qu’il s’était fixé lui parût soudain très éloigné et qu’il éprouvât une sorte de gêne à aller vers une région dont les abords lui étaient inconnus.“3 Auch werden in TO1 Objekte, die in Thomas’ Wahrnehmung geraten, benannt. Dabei handelt es sich z.B. unmittelbar nach dem Eintauchen um einen anderen Schwimmer oder etwas später um ein Boot. Beides lässt Thomas in einer bewussten Entscheidung entgleiten, ebenso wie er nicht versucht, an das sichere Ufer zurückzukehren. In TO2 ist die Gewalt des Wassers, das Thomas zum Objekt macht und ihn sich unterwirft, durch die Kürzungen der eben genannten Passagen sehr viel deutlicher in den Vordergrund gestellt, so dass das Gleiten zur unerklärlichen und fremdbestimmten Sogwirkung wird.

      Der Eintritt ins Offene zeigt sich unter anderem an der veränderten Blicksituation: Während Thomas am Ufer seinen Blick trotz des Nebels auf die Schwimmer im Wasser richten kann, verdeckt der Nebel von der anderen Seite aus betrachtet das begrenzende Ufer und Thomas’ Blicke (ses regards), nun im Plural, finden keine Haftung mehr.

      La brume cachait le rivage. […] La certitude que l’eau manquait, imposait même à son effort pour nager le caractère d’un exercice frivole dont il ne retirait que du découragement. Peut-être lui eût-il suffi de se maîtriser pour chasser de telles pensées, mais ses regards ne pouvant s’accrocher à rien, il lui semblait qu’il contemplait le vide dans l’intention d’y trouver quelque secours.4

      An dieser Stelle wird anhand des fehlenden Wassers, in dem Thomas schwimmt, das inhaltlich