Nachtdenken. Martina Bengert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Bengert
Издательство: Bookwire
Серия: Orbis Romanicus
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823300397
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und Nacht bedingt, bedingt der Tod das Leben als dessen einzige Sicherheit.

      Man darf jenseits jeglicher Religiosität davon ausgehen, dass das Leben mit Sicherheit in den Tod mündet. Der Weg vom Tod ins Leben oder in einen anderen Zustand obliegt dagegen nicht mehr der rationalen Erkenntnis, sondern ist Sache des Glaubens. Blanchots Verschränkung der ‚autrenuit mit dem Tod ist die Verschränkung einer absoluten Unbegreifbarkeit mit einer gewissen Erfahrbarkeit. Beide können aus Sicht der Lebenden nicht unmittelbar, sondern nur über hinterlassene Spuren erfahren werden. Eine solche Spur ist beispielsweise der Tod anderer Menschen, der Affekte wie Schmerz, Verlorenheit, Leere und Trauer bei den Angehörigen verursacht. Man kann der anderen Nacht im Sinne einer Nachträglichkeit immer nur nachdenken. Wenn Blanchot über Rilke sagt: „Lorsque Rilke médite sur le suicide du jeune comte Wolf Kalckreuth, méditation qui prend la forme d’un poème […]“, dann ist Blanchots Nach(t)denken eines, das in Thomas l’Obscur seine literarisch-philosophische Form sucht.2 Ein zentraler Aspekt dieser Form ist die Perspektivlosigkeit bzw. Überperspektiviertheit, welche Emmanuel Levinas als Effekt der Erfahrung des nächtlichen Raumes bezeichnet:

      [L]es points de l’espace nocturne ne se réfèrent pas les uns aux autres, comme dans l’espace éclairé; il n’y a pas de perspective, ils ne sont pas situés. C’est un grouillement de points. […] L’absence de perspective n’est pas purement négative. Elle devient insécurité. […] L’insécurité ne vient pas des choses du monde diurne que la nuit recèle, elle tient précisément au fait que rien n’approche, que rien ne vient, que rien ne menace; ce silence, cette tranquillité, ce néant de sensations constituent une sourde menace indéterminée, absolument.3

      Das Nachtdenken in Thomas l’Obscur versucht nicht, dieses „Punktegewimmel“ zu bändigen, sondern es als widersprüchliches Kraftfeld zu erschreiben und die Verunsicherung auf allen Ebenen der Sprache gegenwärtig werden zu lassen. In der Folge soll nachgezeichnet werden, wie die Dynamik der Sprache in Thomas l’Obscur in ein Nachtdenken mündet. Die Schärfung der Konturen seines Nachtdenkens soll über unterschiedliche Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Formen der Annäherung an Undenkbares – oder zumindest schwer Denkbares – geschehen.

      A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel

      Eine Studie zu Blanchot, insbesondere aber eine über Thomas l’Obscur, wird sich aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes immer auf der Grenze zur Unverständlichkeit bewegen müssen. Dabei selbst ins Unverständliche abzugleiten, stellt keine geringe Problematik dar. Der Anspruch des vorliegenden Buches liegt nicht zuletzt darin, sich dem Unverständlichen über eine Dynamik von Verständlichem und Komplexem zu nähern, die das Nachtpotential von Blanchots Text(en) in seinen Paradoxien und logischen Abgründen zumindest in einigen Facetten nachvollziehbar wiederzugeben vermag. Die Grenze zwischen Komplexem und Unverständlichem ist dünn und die zwischen Verständlichem und Unverständlichem ebenso. Vielleicht könnte man dieses Verhältnis sogar so denken, dass die Komplexität eine Grenze zwischen Verständlichem und Unverständlichem bildet. Verständliches ist in Thomas l’Obscur eine Rarität, auch weil es immer eine Reduktion bedeutet: vom Virtuellen des Unverständlichen in die Aktualisierung des Verständlichen, des Realisierten, des Ausgesagten. In anderen Worten formuliert, ist die Verständlichmachung des Unverständlichen eine Reduktion des Nachtdenkens auf ein Tagdenken. Dieses Nachtdenken nachzuzeichnen, ohne von ihm schreibend gänzlich ergriffen zu werden, aber auch ohne der analytischen Ordnung des Tages zu verfallen, wird bedeuten, immer an der Grenze zwischen den beiden Logiken zu arbeiten. Der Leser dieser Arbeit wird selbst entscheiden müssen, wo sich meine Ausführungen über das Nachtdenken bewegen. Im Idealfall sind sie in regelmäßigen Abständen klare und pointierte Gedanken zu bisweilen doch recht anspruchsvollen theoretischen und literarischen Figurationen, wie z.B. der Höhle, des Abgrunds, der Wiederkehr vom Tod oder der Nacht. Meine Studie stellt dabei keine Motivgeschichte der Nacht dar, sondern vielmehr eine Lektüre von Thomas l’Obscur, die unter dem Stern der Nacht steht. Dies bewirkt unter anderem, dass in manchen Kapiteln Textstellen analysiert werden, in denen es vordergründig gar nicht um die Nacht geht, wohl aber um ihre Spuren und Konsequenzen.

      Mit dem Nachtdenken sollen Prozesse und Bewegungen des Textes umfasst werden, die dem Begreifen stets vorhalten, dass die erkannte Bedeutung oder der gefolgerte Zusammenhang nur relativ ist und immer eine metonymische, metaphorische, analogische (die Reihe könnte um einige weitere Adjektive angereichert werden) Dimension dahinter liegt, die den Wahrheitsgehalt des Gelesenen ins Wanken bringt.

      Wenn Literaturwissenschaft bedeutet – wie ich schon in meinen romanistischen Studienjahren gelernt habe – nicht nur festzustellen, dass ein Text bestimmte Effekte beim Leser erzeugt, sondern nach den Operationen des Textes zu forschen, die diese Effekte hervorbringen, so soll die vorliegende Arbeit über die Hinzunahme verschiedener philosophischer, psychoanalytischer und kultursemiotischer Konzepte genau eine solche Lektüre versuchen.

      Meinen Textzugang kann man als philologisch-philosophischen Ansatz bezeichnen, der unter dem Zeichen eines Close Readings steht und strukturell die Form eines Textkommentars hat. Er ist eine Verbindung von Philologie und Philosophie, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Trennung zwischen philosophischem Denken und literarischem Schreiben bei Blanchot nicht leichtfertig zu machen ist. Beide sind über eine Erfahrung der Sprache verbunden, die Jacques Derrida wie folgt beschreibt: „Faire l’expérience, c’est avancer en naviguant, marcher en traversant. Et en traversant par conséquent une limite ou une frontière. L’expérience de la langue devrait être une expérience comme à la poésie et à la philosophie, à la littérature et à la philosophie.“1 Derridas Wunsch, Philosophie und Literatur zu vereinen, ist in Thomas l’Obscur realisiert über eine Erfahrung der Sprache, die eine Erfahrung der anderen Nacht darstellt.

      Sofern es mir weniger um Blanchot-Exegese, als vielmehr um den Versuch geht, Blanchots mikropoetischer Sprache in Thomas l’Obscur zu folgen, rücke ich meine Methodik ganz bewusst in eine dekonstruktive Praxis des Kommentars als eine Praxis des Ränder-Vollschreibens. Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem 2003 ins Deutsche übersetzten Werk Die Macht der Philologie die Dekonstruktion als „philosophische Verkörperung des textuellen Prinzips des Kommentars“2 bezeichnet, betont dort auch:

      Kommentare sollten der Traum eines jeden Dekonstruktivisten sein. […] Eine dekonstruktive Lektüre wird immer an einem Primärtext ‚entlang‘ lesen, und das ist zugleich eine Form der Lektüre, deren textuelle Äußerung notwendig von diesem Verhältnis zu dem betreffenden Primärtext geprägt sein wird. Es ist eine Lektüre, die sich der eigenen ‚Supplementarität‘ ebenso ständig bewußt ist wie der des Primärtexts, d.h. der in jedem Augenblick gegebenen Möglichkeit, dem Primärtext oder der dekonstruktiven Lesart weitere Worte hinzuzufügen.3

      So ist sich meine Vorgehensweise des Eingreifens in den Text bewusst und betrachtet – mit Derrida und Roland Barthes gedacht – den Text als Textur, deren Auftrennung und Ausbreitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Bei diesem Prozess wird indessen nicht einfach etwas bereits Vorhandenes freigelegt, sondern überhaupt der Text erst erschaffen, neue Fäden in den Text eingezogen und das Gewebe mit anderen verknüpft.

      Der Begriff des Kommentars wird gezielt dem der Analyse vorgezogen, weil er schon in seinem Selbstverständnis weniger gewaltsam vorgeht, indem er den Text nicht mutwillig zerstückelt und Sequenzen aus seinen narrativen Zusammenhängen reißt, welche gerade bei Blanchot äußerst wichtig sind. Im Sinne des dekonstruktiven Kommentars ist dabei ein wesentlicher Anspruch, nicht von außen Theoreme über den Text zu stülpen, sondern aus dem Geschriebenen heraus Bewegungen des Textes nachzuzeichnen und diese in einem zweiten Schritt mit literarischen, philosophischen oder anderen Subtexten zu verknüpfen. Dabei verschiebt sich automatisch jedes Mal der Zugang entsprechend und muss neu gesucht werden. Dies bedeutet konkret ein Schreiben an den Kapiteln von Thomas l’Obscur entlang: Zum einen sind die Kapitel eine von der Textstruktur selbst vorgegebene Ordnung, die so im Sinne des Respekts vor dem Text beibehalten wird. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Grund ist zudem, dass Thomas l’Obscur ein Text ist, der mit allen Mitteln und auf allen Wegen versucht, von innen heraus das Gesagte stetig zu relativieren, umzukehren oder zwischen Bezugsebenen gleiten zu lassen. Die