* Stanislaw Jerzy Lec, Stanislaw JerzyLec, vgl. Anm. zu Brief Nr. 44
An Burkhard Talebitari, BurkhardTalebitari 16. Dezember 2013 Nr. 20
Die Fragen, die Du Dir stellst, kann ich zwar beantworten, doch mir und nicht Dir. Ich lese sie mit und warte auf Deine Antworten oder Beantwortung. Dir vorausgehen will ich mit der Beantwortung der Frage, ob eine Mail noch als Brief betrachtet werden kann oder soll. Die Frage ließ mich nicht schlafen, obschon sie mir nicht grundlegend scheinen wollte. Du setzt etwas voraus, wogegen Du Dich selber stemmst (oder gefeit glaubst), wozu Du selbst weder Muster noch Beispiel bist: Lese ich Deine Mails, erkenne ich nicht, worin oder wodurch sie sich von Briefen unterschieden. Der Unterschied muss gesucht oder hergestellt werden. Das ist sicher so, stimmt aber nicht. Es gibt keinen Unterschied, denn Du bist ein Briefschreiber, und das bist Du und bleibst Du unter allen Umständen und durch alle Medien. Gibt es nun auch keinen Unterschied, so gibt es doch eine Differenz, sie ist eine psychologische und sie betrifft die Bewusstseinslage und die zu tilgende Distanz. Bei Dir ist sie noch schwerer festzustellen als bei mir (auf den die Feststellung ebenfalls zutrifft: es gäbe keinen erkennbaren Unterschied zwischen Brief und Mail), denn Du beeilst Dich mit Schreiben und Antworten nicht, es bleibt immer die dem Zweck eingeräumte Zeit. Bei Dir entfällt schon ein Kennzeichen: Der Mailschreiber hat es mit der Eile – auch wenn er es nicht eilig hat oder wenn Eile nicht gefordert wird. Die Mail ist die Eilige Schrift. Und im Gegensatz zur Heiligen ist sie nicht um Korrektheit, Fehlerlosigkeit, Genauigkeit, Sauberkeit bemüht, das ist grundlegend: Mailschreiben heißt an sich – mit der Eile zu tun zu haben. Damit bricht in den „Text“ – der noch zu besprechen wäre – die so lange ferngehaltene / ausgeschaltete Schamlosigkeit ein. Man kann sich nicht zeigen, ist also auch alles, wie es ist. Vor dem Schirm heißt psychologisch – halböffentlich, das kann „theoretisch“ die ganze Welt mitlesen, es ist kein Blatt und kein Bogen, kein Zusammenfalten und mit eigener Zunge anzufeuchtender Umschlag, frankiert und abgestempelt. „Nicht Ich und Du.“ „Das Wort ist nicht gerichtet“, man meldet sich und kommt sich als Nachricht vor. Ich unterbreche, denn es ist zu früh, um frisch genug denken zu können, es ist das erste Festhalten einer lohnenden Besprechung – für später. Im Prinzip – für mich Schreibenden – ist es ähnlich dem Wechsel von der noch ganz intimen Füllfeder zur nichtintimen Schreibmaschine. Mit dem Halten der Füllfeder – mit dem Sie-nicht-aus-der-Hand-Geben, aber Aus-der-Hand-legen-Können – wähnte ich mich Herr des Schicksals, federführend im Auge eines jeden Worts, verantwortlich für jedes, ganz und gar und rund. Mit dem Geklimper der Finger, dem Geklopfe der metallnen Lettern ward es mächtig eingeschränkt. Der Text bekam eine sichtbare Festigkeit, ich selbst aber ward tief verunsichert, wie wenn ich meine schreibende Hand verlassen hätte. Es war für mich eine antipoetische Handlung, für die ich mit einem wachsenden kritischen Sinn büßen musste.
Dieser Wechsel prägte sich meinem Bewusstsein als grundlegend ein, und in diesem Punkt bleibe ich mit H. G. Adler, Hans GünterAdler* unauslöschlich verbunden, denn er redete mir die Schreibmaschine ein. Das habe ich ihm lange nachgetragen, ja, nicht verzeihen wollen, und das beunruhigt mich noch eben jetzt, da ich erkennen muss, dass ich mein deutsches Werk diesem Moment schulde oder verdanke. Ich wäre mit der Füllfeder nicht darauf gekommen, hätte es auch nicht geschafft, und – wäre ich später nicht mit größter Abneigung an den Rechner gelangt –„Treffpunkt Scheideweg“ wäre kaum zur Welt gekommen. Mein Werk bliebe ohne Folgen, oder – an „Variationen“ etc. gemessen – ich bliebe ohne Werk im Deutschen. Im Hebräischen blieb ich bei der Füllfeder – wäre vielleicht weitergekommen, ob ich meine Zeit je erreichte? Schwer zu denken, man könne mit der Füllfeder Zeitgenosse sein. An Oskar Loerke, OskarLoerke denken aber doch Zeitgenossen vieler Zeiten. Das Buch hat es mir angetan: Von Loerke, OskarLoerke geschrieben**, von Annette Kolb, AnnetteKolb auf mich kommend, Alfred Mombert, AlfredMombert enthaltend.*** Dreimalstolz. Dass es mir nicht daran lag, Zeitgenosse zu sein, steht auf einem anderen Blatt. Zeitgenosse meiner Jugendsehnsucht – ja, das wollte ich sein, mit Emmy Hennings, EmmyHennings**** und Lotte Pritzel, LottePritzel*****. Im Deutschen konnte ich jedenfalls sein, was zu werden mir im Hebräischen verwehrt bleiben musste: Zeitgenosse vieler Zeiten.
Das Jahr 2013 war mir Plage genug, es erfordert noch allerlei Reinigung, auch wäre mir das Verantworten von Briefen anderer, die konsultiert, befragt, beschnitten werden müssten – zu schwer, mitunter lästig, wobei ich deren Zustimmung weitgehend voraussetzen dürfte. Es wäre alles zu umständlich, vor allem zu umfangreich, und – lese ich mit Deiner Nase – es scheint auch wenig dafür zu sprechen. Nicht jeder, der gern Briefe schreibt, ist hinlänglich Briefschreiber.
Es gibt Menschen, die gern mit mir korrepondieren, das merkt man ihren Briefen auch an, manche entwickeln eine Stimme, manche hallen wider oder hauchen ihren Geist brieflich aus. Das wäre eine Studie für sich. Die herrschende Meinung ist dem Brief eher abgeneigt, die Neigung gilt dem Briefwechsel, auch wenn der Wechsel ohne Deckung bleibt. Das würde ein verlegerisches Problem ergeben, wie die Anmerkungen auch, die ich mir so gern sparen möchte. Ich könnte freilich andere Konzeptionen verteidigen, aber nicht gut genug darstellen. Es bleibt – anders als „Vielzeitig“ – die Geschichte meines Alterswerks und meines Alterns, mit der dazu geschaffenen Umwelt und vielen Nebenstimmen. So interessant oder eigenartig dies sein mag (mit Einsichten noch und noch), es bewegt sich in einem engen Interessenkreis und letztlich um einen wenig bekannten Autor.
Die hinreißenden Stellen sind wenige, denkbar wären kleine Auszüge als Vorspann – oder als Anmerkung oder im Anhang. Meine Briefe – streng ausgewählt, die Auswahl wieder gesiebt – und die Briefe selbst gut gekürzt. Widme bitte auch dieser Vorstellung einen Gedanken, ehe ich mich zu einer Konzeption entschließe. Ich möchte gern von editionellen Begriffen weg, doch gerade bei Briefen fürchten Verleger die (meist nicht vorhandenen) Editionskritiker, es gibt ja in der kritischen Welt nichts Leichteres zu kritisieren/bemängeln als einen Briefband (ein falsches Datum, eine alte Schreibart, das Fehlen eines Namens im Register, „ein Vergleich mit ergäbe …“). Es ist eben schwer, mit einem Briefband die Unvergleichlichkeit zu erreichen. Gut, dass es mir in der Aphoristik glückte, da konnte ich aber auch taktieren.
* H. G. Adler, Hans GünterAdler (1910–1988), deutschsprachiger Prager Schriftsteller; vgl. Allerwegsdahin, S. 92; vgl. Die Rede geht im Schweigen vor Anker, S. 51; vgl. Aberwenndig, S. 93 mit Anmerkung
** Oskar Loerke, OskarLoerke: Zeitgenosse aus vielen Zeiten. Berlin: S. Fischer 1925
*** EB: Annette Kolb, AnnetteKolb und Israel; vgl. Treffpunkt Scheideweg, S. 34; Loerke, OskarLoerke: Zeitgenosse aus vielen Zeiten, S. 206–215; vgl. Olivenbäume, S. 301
**** Emmy Hennings, EmmyHennings (1885–1948), Schriftstellerin und Kabarettistin; gehört mit ihrem Ehemann Hugo Ball, HugoBall (Heirat 1920) zu den Begründern des Dadaismus.
***** Lotte Pritzel, LottePritzel (1887–1952), Puppenkünstlerin, Kostümbildnerin und Zeichnerin
An Harald Weinrich, HaraldWeinrich, 13. Mai 2015 Nr. 21
Dein Brief hat mich einigermaßen erschüttert, weil es das Bild Deines Lebens, wie es ist und wie es war, wiedergibt: Alle Ecken und Enden finden sich in den Brief ein. Der freie Blick des über Paris schwebenden Geistes des Romanisten, das fliehende Gedächtnis, der suchende Blick, der noch sieht, was nicht verborgen bleiben kann: die Rothschild-Schule, die Lage also und der Rückknüpfung [?], alle Bemühungen um Freiheit und Änderungen, die Dich auszeichneten, das Vertrauen im Experiment, die Verbrüderung jener, die irgendwann wieder aufhören, Brüder zu sein, weil sie „stämmig“ werden und streng um Abgrenzung bemüht sind, Territorium, Acker, Quelle, Brunnen, Wüsten und Verwüstungen. Das alles ist in Deinem Brief zusammengeklagt. Man verspricht nicht mehr, zu leicht könnte man sich versprochen haben.
An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 8. März