Merkwürdig: Ähnlich ergeht es mir beim Stichwort „Hans Weigel, HansWeigel“**. Bei aller Sympathie, die uns augenblicklich verband, hatte ich seine Gegenwart als massiv und etwas grob empfunden, aber seit einigen Jahren erblüht mir seine Nähe, die ich erfolglos zu greifen versuche.
Sie sehen, was da alles erwacht – und alles ist noch nicht alles! Ungewollt kam ich auf beide Kritiker zu sprechen, die meine Anfänge gutherzig begrüßten. Es war übrigens Weigel, HansWeigel, der mich an Günther, JoachimGünther empfohlen hatte. In der Aphoristik tauchten Günther, JoachimGünther und ich fast gleichzeitig auf, waren eigentlich Rivalen, mir gegenüber hatte er sich als Kritiker und Gentleman bewährt. Neuerdings fiel mir sein Aphorismenband (mit Widmung) in die Hand, ich fragte mich, ob ich das wieder lesen soll, ich tat es nicht. Es wäre, sagte ich mir, ein Luxus, wenn ich darüber nicht auch gleich schreiben wollte. Und zum Schreiben will es nicht kommen, auch meine Aufzeichnungen legte ich beiseite. Keine Lust, sie fortzusetzen, die Arbeit macht mir Mühe, keine Liebesmühe.
* Vgl. Anm. zu Brief Nr. 66; Johann Siering (d.i. Joachim Günther, JoachimGünther): Rez. Benyoëtz, Einsätze. In: Neue Deutsche Hefte 22, 1975, S. 629–630; Rez. Benyoëtz, Eingeholt. In: Die Zeit, 6.4.1979, dann in: Neue Deutsche Hefte 26, 1979, S. 600–603
** Vgl. Vielzeitig, S. 279f., 298
An Jutta Czeguhn, JuttaCzeguhn, 24. Juni 2013 Nr. 78
Annette Kolb, AnnetteKolb hört nicht auf, mich zu begleiten und mir bedeutend zu sein – auch in ihrem unverwüstlichen Stil, der mir als Erinnerung über Jahrzehnte langsam auf der Zunge zergeht. „Torso“ hieß die erste Kolb, AnnetteKolb-Prosa, die ich zur Kenntnis und zu Herzen nahm – vor knapp 60 Jahren.* Diese Prosa bestimmte auch meinen Blick auf ihr Erscheinungsbild. Sie war nicht nur älter als alt, sie war urtümlich uralt. Auf dem alten Pergament ihres Gesichtes stand für mich ihre ätzende, muntere, schlagende, nicht handfeste Prosa. Bayerin durch und durch, Pariserin mehr und mehr, schrieb sie ihr Deutsch in vier Sprachen: Bayrisch, Französisch, Italienisch und nicht zuletzt Englisch. Das wäre vielleicht eine Basis für eine neue Betrachtung ihres Stils. Sie selbst war eine Metropole von Bekanntschaften und Erinnerungen, wir gingen durch sie wie durch Straßen, unterwegs klopften wir an vielen Türen, und alle öffneten sich.
Wie sie war? Mutig, kühn, abenteuerlich, rastlos, ungeduldig, aber täglich am Klavier, und bei guter Gelegenheit Karten auslegend. Waren meine Karten schlecht ausgefallen, lags an den Karten, sie mussten wieder gemischt werden. Sie lebte im Glauben und in schlechter Erinnerung ihrer Klosterschule. Ab und zu begleitete ich sie in die Kirche, sie sagte: Ich bin gläubig, aber nicht fromm. Meine Aphorismen über den Glauben hat sie beherzigt. Sie konnte gleichzeitig Dickschädel und Kindkopf sein. Wir waren oft, gern und lange zusammen, auch wenn sie zwischendurch einnickte. In einer ihrer Widmungen heißt es: „Dem wilden Hebräer von seiner christlichen Schwester“, mit „christlich“ meinte sie „sanft“ im Gegensatz zu „wild“. Aber die „christliche“ war mir recht, denn sanft war sie nicht, aber eine Schwester – durch dick und dünn.
Ich glaube nicht, dass ich von ihr das Wort „Heimat“ je hörte, mir ist, als hätte es zwischen uns auch keinen Erwähnungswert. Wir standen ganz in der Geschichte, deren letzte Phase eine unselige und unglückliche war. „Haimat“ [!] war in jenen Jahren noch Synonym für „Blut und Boden“, sie kam von Amerika nach Paris zurück, war stolz auf ihr Foto mit de Gaulle und mochte gern an das vereinte Europa denken.
Ob sie sich in München wohlgefühlt hatte? Das lässt sich mit Sicherheit nicht sagen, ein Mensch hohen Alters fühlt sich schon in seinen Tagen nicht glücklich. Sie kam nicht aus ganz freien Stücken zurück, sie lebte in einer gewissen Not, aus der ihr Joseph Breitbach, JosephBreitbach heraushelfen wollte und herausgeholfen hat. Sicher nicht er allein. Annette Kolb, AnnetteKolb hörte nie auf, von Sami Fischer, SamuelFischer als Mäzen zu sprechen. Die Verbindung zum Verlag blieb alle Jahre eng und warm – mit und ohne Veröffentlichungen. Händelstr. 1 in Bogenhausen war indes ihre letzte Adresse, und es war ihr klar, dass es auch ihre letzte Station sei. Damit sollte sie sich abfinden, das konnte sie nicht. Ob Heimat oder nicht – ihr Bruder Paul lebte in München und war da, gute Geschwister waren sie. Und dann das große Freundesnetz, die Ehrungen, die Sprache um die Ohren, war Deutsch doch der Sprachrest, der ihr für ein letztes Schreiben blieb. Ihre Handlungen, auch die launischen, waren immer charakteristisch, meistens charaktervoll. Es gab eben nur eine Annette Kolb, AnnetteKolb, und die, welche ich kannte, war die ihr Ähnlichste. Ich trauerte ihr lange nach, am Ende der Trauer lebt sie eben noch.
Annette Kolb, AnnetteKolb war um Ehrlichkeit bemüht, und ihre letzte Reise – nach Israel – bekam einen unehrlichen Anstrich, da man sie als Pilgerfahrt herausstellte, was sie nicht war. Ich weiß es nicht besser, aber genau, weil ich diese Reise für sie organisierte – gegen das (echte und falsche) Bangen einiger Freunde. Nicht alle, die hoch in die Jahre kommen, werden senil; Rücksicht ist immer geboten, Unehrlichkeit und Missbrauch nicht. Man wird nicht uralt, um sein Wort gebrochen zu bekommen. Annette Kolb, AnnetteKolbs letztes Wort, an mich geschrieben, lautete (München, 15. VII. 1967): „Dein Land ist schon mein Land geworden.“
* Annette Kolb, AnnetteKolb: Im Jahre 1905 beschrieb sie in der autobiografischen Erzählung „Torso“ ihre Begeisterung für Richard Wagner, RichardWagner. Die Hauptfigur Marie durchläuft, wie Annette Kolb, AnnetteKolb, eine verstörende Schulzeit im Klosterinternat.
An Kaszyński, StefanStefan Kaszyński, 4. Juli 2013 Nr. 79
Ich dachte gestern, es wäre womöglich eine kleine List der Geschichte, damit wir miteinander in Kontakt kommen, denn in Gedanken – in geistigen Räumen – habe ich Sie schon öfter gesucht. Warum? Die indirekte Antwort liegt in Ihrem Satz „Ich glaube nicht, dass St. J. Lec, Stanislaw JerzyLec eine Weltkarriere gemacht hätte ohne die Sprachkunst von Dedecius, KarlDedecius.“* Dagegen ist kein Wort zu sagen, nichts spräche dagegen, alles dafür – doch: wofür genau? Man müsste sagen: Für Dedecius, KarlDedecius, für seine Sprachkunst. Das würde ich sagen, nicht gesagt haben wollen. Das betrifft die vom Deutschen ausgehende „Weltkarriere“, nicht die vom Polnischen ausgehen sollende! Lec, Stanislaw JerzyLec ist ein deutscher Aphoristiker geworden (vielleicht zur Freude des Auch-Wieners in ihm), er ist und bleibt ein polnischer, und sein Name steht für das überwiegend Polnische in der Aphoristik seiner Zeit, die weitgehend verkommen, wenn nicht bereits verlassen war. Dedecius, KarlDedecius steht für den Doppelblick, gleichfalls einmalig in der Zeit, und Sie, als Dritter, entscheiden die Lage. So sehe ich Sie, so glaube ich Sie verstanden zu haben. Denn es war Ihr Vorhaben, österreichisch darüber – mit einem polnischen Blick oder einem Blick aus Polen – zu entscheiden. Mir fällt dabei ein Name ein, den Sie – würden Sie nicht mit ihm vertraut sein – zu Herzen und zu Forschung nehmen könnten: Otto Forst de Battaglia, OttoForst de Battaglia**. Warum ich an ihn denke und warum in Zusammenhang mit Ihnen – demnächst. Sie haben vielleicht schon selbst daran gedacht.
* Karl Dedecius, KarlDedecius (1921–2016): Übersetzer polnischer und russischer Literatur, Gründungsdirektor (1979–1997) des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt
** Otto Forst de Battaglia, OttoForst de Battaglia (1889–1965), österreichischer Historiker, Übersetzer, besonders polnischer Literatur, Literaturkritiker
Von Stefan Kaszyński, StefanKaszyński, 4. Juli 2013 Nr. 80
Lec, Stanislaw JerzyLec, ein alter Galizianer, war in den vierziger Jahren Pressereferent an der polnischen Vertretung in Wien. Er hatte schon damals Gedichte und Aphorismen geschrieben. Ein mir gut bekannter Schriftsteller und Übersetzer, Oskar Jan Tauschinski, Oskar JanTauschinski, der mit Lec, Stanislaw JerzyLec befreundet war, hatte versucht, für diverse Wiener Zeitungen einige seiner Aphorismen zu übersetzen. Die Übertragungen waren stilistisch und semantisch