Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elazar Benyoëtz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772001093
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stark beschäftigt. Sie müssen im Übrigen nicht die Befürchtung haben, das, was ich in meiner leidenschaftlichen Auseinandersetzung so über ihn sage, könne insgeheim auch auf Sie gemünzt sein: nein, nein! Sie denken und leben ganz und gar anders als er, vor allem gehen Sie mit den aphoristischen Verfahren völlig anders um, andererseits ist es aber für die Spannweite der Gattung schon interessant, dass Sie trotz aller tiefgreifenden Unterschiede doch beide kluge und erbauliche Aphoristiker sind (dass das bei mir einen eigenen Klang hat, wissen Sie) und Lust an der Pointe haben, also noch in ein gemeinsames Haus gehören. Es gibt immer noch gute Gründe, gegen Croce, BenedettoCroce und andere an der Vorstellung festzuhalten, es gebe so etwas wie Gattungstraditionen – die wüste Welt wird dadurch punktuell ein bisschen ordentlicher.

      * Arbeit an dem Aufsatz über Gómez Dávila, NicolásGómez Dávila; siehe Anmerkung zu Brief Nr. 91

      An Burkhard Talebitari, BurkhardTalebitari, 16. Dezember 2013 Nr. 94

      Als mir H. G. Adler, Hans GünterAdler* mitteilte, er schriebe seine Gedichte auf der Schreibmaschine, empfand ich eine Abscheu gegen ihn; die Mitteilung, die nackte Tatsache, reichten mir, sein „Dichtertum“ in Zweifel zu ziehen. Warum in Zweifel ziehen, ist die eine Frage; wer in Frage gezogen werden soll – die andere. H. G. Adler, Hans GünterAdler galt als Schwieriger und hat sein Gelten verdient. Er hatte die Physiognomie seiner Bücher: nicht zu bestechen, nur zu erobern; zu bewundern, nicht zu lieben; mit der Liebe war es vorbei, auch mit der Toleranz, geblieben sind: der Rang und die wortkarge Bewährung. Ich besorgte mir eine Schreibmaschine. Die Füllfeder habe ich weder abgeschafft noch abgegeben, die Versuchung lag nah und sie zog nach sich das Versuchen und Üben. Das hat – weil Du mich fragst – mit meiner späteren Einstellung zu seinen Gedichten nichts zu tun, ich habe sie damals, zur Zeit unserer Freundschaft, gelesen, und zehn oder zwanzig Jahre später wieder, immer von Reuegefühlen begleitet darüber, dass ich ihm als Lyriker keinen Rang zuzusprechen vermochte. Die Frage des Ranges ist eine dringende, schwer zu entscheidende. Es kommt ja nicht selten vor, dass ein Dichter-ohne-Rang ein umwerfendes Gedicht schreibt, das man nicht wieder vergisst; nicht wenige dieser Art sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, keines davon stammte von H. G. Adler, Hans GünterAdler. Aber auch das kommt vor und lässt sich kenntlich machen: ein Mensch von Rang, sein Leben tadellos, seine Prosa einwandfrei, seine Lyrik, um das eine Gedicht ringend – und ohne Erfolg. Aber was ist schon ein Gedicht gegen eine Romanfülle, die überwältigt? Nichts, nur ist Dichtung mit Adel verbunden, Prosa nicht. Auch der Gröbste leidet, wenn man ihm sagt, er wäre nicht von Adel. Nicht zu fassen, doch auch gefasst, ergäbe es keine Poesie.

      * Siehe Anm. zu Brief Nr. 20

      An Werner Helmich, WernerHelmich, 9. August 2015 Nr. 95

      Ich spekuliere gern um die Romanistik herum. Germanistik denke ich mir als „Verband von“, Romanistik „als Kreis um“. Nicht alle Romanistik ist fein und nobel, Germanistik oft brutal, oft banausisch, was die Romanistik nicht zu sein „pflegt“. Ich selbst bin so gar nicht Romanist, mir ist sie die Entdeckung auf dem Weg zur Germanistik. Ein Romanist kann nicht schreiben, ohne sich zu porträtieren, was ihm mehr fremd als erwünscht ist, es geht nicht anders, wenn man immer mit der Waage schreibt. Germanistik kennt die Waage nicht, nur die falschen und echten, meistens die schweren, dicken und groben Gewichte (Steine). Es geht selten ums Gesicht, es geht fast nur ums Können, und wenn man endlich schreibt, dann – nieder!

      Bei den Romanisten, die ich – eine ziemliche Anzahl von ihnen – liebe, fand ich dieses Niederschreiben nicht. Kritisch wohl, bis ätzend, allerwegs elegant. Und wie gut und hilfreich waren schon immer die deutschen Romanisten! Auch die Charakterschwachen, bis auf einzelne Gauner, die man kennt, weil auch sie nicht wirkungslos blieben.

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 1. November 2015 Nr. 96

      „Du / Eine Rühmung“ von Kurt Marti, KurtMarti* kenne ich nicht, das sei meinem nächsten Schweizer Aufenthalt vorbehalten. Ob ich mich zu einem Werkdialog mit Marti, KurtMarti bringen könnte, ist eine Frage, da ich mit Lebenden nicht spreche, das tu ich in meinen Tagebüchern. Dank Dir kann ich zum ersten Mal Bücher von Marti, KurtMarti lesen, ganze Bücher, und ihm nach und nach auf den Grund kommen. In seiner Art und Haltung steht er mir schon vor Augen, als Dichter muss er mir erst vertraut werden, so einheitlich seine Person auch ist – in ihren Aussagen; verschieden sind seine „Macharten“. Im Theologen Marti, KurtMarti dominiert der Gemeinsinn (er steht nicht nur in der Gemeinde und ihr vor, er geht ihr auch voraus, in dieser Rolle wirkt der Prediger als Einpräger und Imprägnierer); in der Poesie dominiert der Eigensinn. In der Theologie hat es Marti, KurtMarti – auch im Sinne der „Konkurrenz“ – leichter als in der Poesie, wo er sich besser und genauer umschauen – und sich „vorsehen“ muss; da sehen andere zu, wird ihm anders auf die Finger geschaut.

      * Kurt Marti, KurtMarti: Du. Rühmungen. Stuttgart: Radius 2008; zu Marti, KurtMarti vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 101

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 13. November 2015 Nr. 97

      Von Deiner Schwester* gabst Du mir in Bern** „Als sei ich von einem andern Stern / Jüdisches Leben in Montreal“ (2011)***, das ich auch gleich gelesen habe, ein lohnendes [Buch] (vom Ergreifenden braucht nicht geredet zu werden), aus lauter Distanzen kommend, lässt es sich als literarisch origineller Versuch betrachten. Die erzählenden Personen gingen mich alle an, interessiert hat mich vor allem Deine berichtende Schwester. Was mir bei ihr, an ihr gefällt: Sie pflegt eine Diktion der Anständigkeit. In der Literatur muss immer etwas gekrümmt, etwas zurechtgebogen werden. Davon bleibt sie frei, bleibt auch in ihrer strengen Freiheit. So war sie schon in den „Häutungen“. Dass sie zu leiden hat, tut mir weh, ich spüre es. Ich liebe ihre Anständigkeit, die weder Ab- noch Ausweichen kennt. Das kann man riechen.

      * Verena Stefan, VerenaStefan, geb. 1947 („Häutungen“, 1975; „Fremdschläfer“, 2007; „Die Befragung der Zeit“, 2014), gestorben 2017 in Montreal

      ** Lesung in der Berner Synagoge, 22. Oktober 2015, mit Improvisationen von Daniel Glaus, DanielGlaus

      *** Verena Stefan, VerenaStefan, Chaim Vogt-Moykopf (Hgg.): Als sei ich von einem anderen Stern. Jüdisches Leben in Montreal. Heidelberg: Das Wunderhorn 2011

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 10. Dezember 2015 Nr. 98

      Bewegt, gerührt und leicht erschüttert teile ich Dir mit, dass eben, am 5. Tag Chanukka, die helvetisch-martinische Ziegelbibel* bei mir eingetroffen ist, eine Aug- und Herzweide. Ich komme aus der ersten Bewunderung nicht heraus, man gewinnt den Eindruck, dass es nicht nur ein Leben birgt, sondern auch den angemessenen Lohn für ein beispielhaftes Leben. Du hast mich – auch noch leichenredend** – verwöhnt und reich – und Leich beschenkt, wie dankt man dafür?

      Um einen solchen Marti, KurtMarti müssen Generationen beten. – „wa’ani lo jadati“ (und ich wusste es nicht), sagt Jakob nach seinem Erwachen (Gen. 28, 16). Mehr lohnt sich jetzt nicht zu sagen, den Dank sollst Du brühwarm erhalten.

      * Kurt Marti, KurtMarti: Notizen und Details 1964–2007. Zürich: Theologischer Verlag 2007. Der Band ist mit 1422 Seiten im Bibelformat ziegelsteinschwer.

      ** Anspielung auf Kurt Marti, KurtMarti: Leichenreden. Neuwied: Luchterhand 1969; München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2004

      An Hans-Jürg Stefan, Hans-JürgStefan, 14. Dezember 2015 Nr. 99

      Das Fehlen Silja Walter, SiljaWalters bei Marti, KurtMarti* ist ein Faktum und unveränderlich. In dieser seiner Welt hatte sie keinen Raum. Gespräch und Bücherschrank sind andere Welten. Ich stellte – und nur, weil ich gerade auf sie stieß – ihr Fehlen einfach fest. Ich war darüber keineswegs „erschüttert“. Marti, KurtMarti muss Silja Walter, SiljaWalter nicht schätzen, ich – ob ichs Dir gestehen darf? – schätze manche Flächen bei ihr auch nicht. Sie ist nicht umsonst und nicht von ungefähr Schwester Hedwig geworden. Ich musste mit ihr ringen, mein Ringen gründete auf Freundschaft und Instinkt, mein Instinkt bewährte sich, das Ringen ward mir nicht erspart. Das alles hätte Kurt Marti, KurtMarti nicht nötig. Du weißt, dass ich ihn schätze und nun auch liebe, ich bin ziemlich blind für ihn, aber ich bin nicht blind gegen seine Schwächen, auch in den Notizen** gibt es Entbehrliches, das „man“ nicht gern entbehrte, weil dies sein Charme