Die Ähnlichkeiten sind immer das Befremdliche
Canetti, EliasCanetti entdeckt Pessoa, FernandoPessoa* und stellt erstaunt, zufrieden und fast dankbar fest, dass Pessoa, FernandoPessoa und er während dreißig Jahren Zeitgenossen waren. Ähnlich erging es mir mit ihm, Canetti, EliasCanetti, anlässlich eines Vergleiches zwischen ihm und mir. Dass man Zeitgenosse ist, will etwas heißen, was macht es aber aus, und warum will man Zeitgenosse eines Nichtgenossenen sein? Was machen die zwischen uns liegenden, klaffenden, trennenden Jahren aus? Es läuft auf den Zeitgeist hinaus. Lebten wir in Zeit und Geist genössisch? Unverwandt sehen wir uns an, als Verwandte wenden wir uns voneinander ab. Alle Verwandlungen laufen aufs Verwandte hinaus.
Canetti, EliasCanetti geht weit, ist immer, in allem weitgehend, bleibt aber kreisend im Umkreis seiner Gedanken, auf den einen fixiert, der seine Kreise stört. Seine Bilder wechseln, der Rahmen bleibt, die Wand wird neu getüncht. Er will über seinen Horizont hinaus, bleibt gern „unter der Sonne“, am liebsten bei seiner Leselampe.
Von Hanser habe ich die letzten Aufzeichnungen Canetti, EliasCanettis und eine Auswahl seiner Aussprüche über Dichter erhalten.** Nicht alles von Gewicht, nicht alles hat Substanz, manches ist gezwungen, wie wenn es ihm schade wäre um seine Lektüre. Er will das Buch nicht umsonst gelesen haben. Die vergeudete Zeit darf nicht auch verlorengegeben werden. Reflexion und gefälltes Urteil rechtfertigen die verlorene Zeit als Zeitvertreib.
Ins Bild gerückt, fällt der Rahmen auf. / Viele Bilder sind Rahmengeschichten. / Das beweist mir, dass unter demselben Titel / jeder ein anderes Buch liest
Vor allem will Canetti, EliasCanetti etwas gesagt haben, darum hört er nicht auf zu lesen. Kraus, KarlKraus war die Schule seines Lebens, seine Ohrmuschel hat Kraus, KarlKraus geformt. Was Abraham Sonne, AbrahamSonne*** ihm bedeutete, hat er lang und breit zu sagen versucht, klar ist es nicht geworden. Sonne, AbrahamSonne war ein weiser Mann aus Galizien, aus dem man schwer klug werden konnte, aus dem niemand klug geworden ist. Das spricht für seine Dichtung, die ihre Fürsprecher bis heute hat. Er war der Dichter schlechthin. Er musste nur seinen Mund öffnen oder auch nur seine Augen. Sie spielten eine größere Rolle als die Handvoll Gedichte, die er meinte hinterlassen zu haben. Die Hinterlassenschaft wurde an- und ernst genommen, 14 Gedichte. Von Sonne, AbrahamSonne weiß ich kein Lied zu singen, hätte aber einiges zu berichten und ein Wort zu sagen.
* Fernando Pessoa, FernandoPessoa (1888–1935): Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich: Ammann 2003; Wenn das Herz denken könnte … . Sätze, Reflexionen, Verse und Prosastücke. Ausgewählt von Marie-Luise Flammersfeld und Egon Ammann. Zürich: Ammann 2006
** Elias Canetti, EliasCanetti: Über den Tod. Mit einem Nachwort von Thomas Macho. München: Hanser 2003; Über die Dichter. Mit einem Nachwort von Peter von Matt. München: Hanser 2004
*** Abraham Sonne, AbrahamSonne (1883–1950): hebräischer Lyriker, österreichisch-israelischer Literaturkritiker und Gelehrter. Canetti, der ihn 1933 kennenlernte, schildert ihn als Dr. Sonne, AbrahamSonne in seinem Memoirenband „Das Augenspiel“.
Von Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 87
Ich kenne Ihre beiden Zeit- und Gattungsgenossen recht gut: Lec, Stanislaw JerzyLec habe ich frühzeitig als Germanistikstudent verschlungen, mir alle „Unfrisierten Gedanken“ gekauft, natürlich alles auf Deutsch, also über Dedecius, KarlDedecius. Mein Eindruck bei ihm – ich habe ihn lange nicht wiedergelesen – ist, dass er seine Wirkung in Deutschland neben Dedecius, KarlDedecius stark dem Kalten Krieg verdankt. Der Aphorismus als subversive Gattung gegen die Grabeshülle der Zensur, und gerade beim polnischen Nachbarn, das hat uns Germanisten damals fasziniert. Bei Canetti, EliasCanetti ist es komplexer, über ihn habe ich in Bologna mehrfach gesprochen und halte ihn – neben dem Narrativen, vor allem der selbststilisierenden Autobiographie – für einen sehr komplexen Aphoristiker mit einem großen Reichtum an subtilen Pointen. Warum er Ihnen in vielem fremd bleibt, glaube ich auch zu ahnen – es dürfte letztlich mit seiner Weltanschauung zusammenhängen. Ich bin leider durch die Lektüre des erschütternden Briefwechsels Veza Canetti, VezaCanettis mit seinem Bruder Georges* vor ein paar Jahren auf manche dunkle Seite bei ihm gestoßen – eine zu genaue Kenntnis der Biographie ist immer eine schlimme Voraussetzung zur literarischen Würdigung.
Wie Sie über sie schreiben, kann Ihnen niemand vorschreiben, am allerwenigsten ich. Ich vermute, das Ihrem Duktus Angemessenste ist auch hier eine Gattungsmischung, wie Sie sie mit dem Briefwechsel schon andeuten. Ob Sie die beiden beurteilen sollen wie ein Kollege, d.h. Konkurrent (aber mit einem völlig anderen Schwerpunkt!) oder wie ein Literaturkritiker, lässt sich von außen nicht entscheiden. Kraus, KarlKraus und Sonne, AbrahamSonne** aus einer anderen Perspektive als Canetti, EliasCanetti – ebenfalls gut. Könnten Sie sich vorstellen, in Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti neu als Leser einzutauchen, und sei es für ein paar Tage – um eine historische Lektüreerfahrung mit der jetzigen zu vergleichen: Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti wiedergelesen? Ich weiß aber nicht, ob da ein starker Widerwille (vermutlich vor allem gegenüber Canetti, EliasCanetti) blockiert, ob Sie also eine solche Neulektüre überhaupt interessiert. Wenn Ihnen beide gar nichts mehr sagen, würde ich nicht über sie schreiben.
* Elias und VezaCanetti, EliasCanetti, Veza Canetti: Briefe an Georges. München: Hanser 2006
** Vgl. Anmerkung zu Brief Nr. 86
An Werner Helmich, WernerHelmich, 8. August 2013 Nr. 88
Wahrnehmung, Eindruck, Analyse. In der Zeit lebend, an Zeitgenossen vorbei. Auch das Früher hat die Verspätung in sich. „Später einmal“, sagen wir. Auch bei der Analyse spielt der Eindruck eine Rolle, während Sie den Text analysiert haben wollen. Diesem Wollen ging der Eindruck voraus, und „er bleibt in der Gegend“. Tagebuch ist ein Zeitphänomen. Sie schreiben keine Tagebücher, Sie lesen und besprechen – und schreiben Ihr wissenschaftliches Hauptwerk. Es wird zu lesen ein Vergnügen sein, und nach allen Richtungen belehrend. Ich schreibe „apodiktisch“ (so heißt es), aber nicht belehrend, vor allem nicht erklärend (wozu ich keine Begabung habe).
Mein Leben ist vorbei, geblieben sind Eindrücke, viele von ihnen könnte man Erinnerungen nennen, sie sehen danach aus. Einige davon waren einmal Lektüren und Lesefrüchte. Urteile wollen gefällt werden, Gerechtigkeit kommt nach dem Gericht, geht ihm nicht voraus. Wollte ich über Canetti, EliasCanetti und Lec, Stanislaw JerzyLec schreiben, ich folgte Ihrem Rat, das Resultat wäre das von Ihnen erwartete: ein Aufsatz, und wäre er noch so kurz, die Lektüre müsste jedenfalls lang sein. Nun schreibe ich keine Aufsätze.
„Bei meiner Arbeit verfiel ich zunächst in meinen alten Fehler: während des Schreibens geriet ich nämlich wieder in die Gebärde der Abhandlung hinein. Eine Abhandlung schreiben aber kann ich nicht.“ (Ferdinand Ebner, FerdinandEbner, Freitag, 6. Dezember 1918, Schriften 2, S. 854)
Und wäre ich dazu fähig, Ihre Fähigkeit ginge weit über meine hinaus, niemals würde ich mit Ihnen konkurrieren wollen. Also zugegeben: Wissenschaftlich – „eng am Text“ – sind meine Urteile wertlos. Auf einen kleinen Teil meiner Zeitgenossen habe ich zeitgenössisch, verspätet oder verfrüht reagiert, in meiner Zeit, nicht auf der Uhr, nicht auf die Minute, weder gerecht noch ungerecht. Die Reaktion fand in Briefen und Tagebüchern statt, aus Tagebüchern und Briefen können sie geholt – nicht frisiert werden. Das tue ich eben: meine Tagebücher und Briefe durchkämmen. Meine Unzulänglichkeit kommt dabei heraus, gegen sie ist kein Kraut gewachsen, auch eine eingehende Lektüre wäre nur Bitterkraut. Wer bräuchte sie denn? Sie haben Recht, wenn Lec, Stanislaw JerzyLec und Canetti, EliasCanetti mich nicht mehr interessieren, dann soll ich über sie nicht schreiben, sie auch nicht wieder lesen. Nun habe ich sie anno dazumal aber doch gelesen und bin nun dabei, meine „Erinnerungen“ zu schreiben. In diesen Rahmen sollten sie hineinwachsen oder hineingepasst werden. Das war die laute Frage eines schlechten, immer stiller werdenden Gewissens.
An Hans-Martin Gauger, Hans-MartinGauger, 9. Oktober 2013 Nr. 89
Reich-Ranicki, MarcelReich-Ranicki war der echte – von allen Seiten kritisierte Kritiker; ein Glück, dass die Akademie ihn dreimal