Der Anschauungsindizien der indikatorischen Wesensmerkmale des Organischen gebe es viele, aber von besonderem Interesse für ästhetische Sachverhalte erscheinen neben der phänomenalen Ähnlichkeit als Erscheinungen von indikatorischen Wesensmerkmalen des Organischen und Ästhetischen der Eindruck des Lebendigen selbst, welcher von diesen ausgehe. Zu den indikatorischen Wesensmerkmalen zählt Plessner: Periodizität, spontane Wechsel innerhalb einer Regel, Unstetigkeit im Stetigen (Rhythmus) und Variierbarkeit sowie Plastizität oder die "Freiheit gegen die Form unter der Form"24 Doch wichtiger noch für den Eindruck des Lebendigen erscheine das Phänomen der Tendenz:
[…] lebendig erscheint diejenige Bewegung, die einer ihr vorgegebenen oder vorlaufenden Tendenz folgt und deren reeller Verlauf somit im Charakter der Erfüllung gegeben ist.25
Erfüllung einer Tendenz setzt Spannung voraus, welche einem in der Zeit sich darstellenden Werk angehört. Das Paar Spannung und Erfüllung ist ebenfalls Grundbestandteil jeder Erzählung und impliziert die weiteren Bausteine jeden erzählerischen Geschehens wie Anfang, Entwicklung und Ende, sei es in Wort, Ton oder Bewegung. Plessner selbst benennt in diesem Kapitel den kategorienüberschreitenden Charakter der indikatorischen Wesensmerkmale der Lebendigkeit, welcher sich bei diesen Phänomenen einstelle. Das Auftreten dieser Merkmale bei toten Gegenständen verursachte unmittelbar den Eindruck des Lebendigen, welcher vom Verstand leicht auch wieder korrigiert werde, wie wenn z.B. ein von einem Gummiball bewegter Tisch, der obzwar kurz, unerwartet den Eindruck von Lebendigkeit erwecke.
Das Reich des Lebendigen und die Lockerung des Seins
Nach Plessner unterscheidet sich das Reich des Lebendigen vom Reich des Nicht-Lebendigen in einer Lockerung des Seins. Wo das Gesetz von Zug und Stoß regiere, träfen die Gegenstände unmittelbar aufeinander. Es gäbe hier keinen Abstand, keine Zone eines irgendwie gearteten Dazwischen halte die Kräfte auseinander, ordne oder hege sie ein, im Gegenteil: dort, wo der eine ende, beginne auch schon der andere. Beide dringen aufeinander ein, werden von wieder anderen bedrängt, gestoßen, gezogen, und alle bilden ein Zusammen Vieler. Der Ort ihres Zusammentreffens sind für Plessner die Ränder. Diese sind undurchdringlich und für sich, es sei denn, die Gegenstände änderten ihre Natur im Ineinander-Übergehen, im Auseinander-Fallen und schließlich in neuen Gebilden. Andere Ränder wären die Folge. Eine allgemeine Dynamik beherrsche die Zustände, und sie gelte für jeden Gegenstand und Gegenstandsteil in gleicher Weise. Denn dort, wo die Gegenstände ohne Grenzen seien, gebe es auch keinen Unterschied zwischen Innen und Außen als unterscheidbare und vereinzelte Räume, sondern allein die bruchlose Fortsetzung eines räumlichen Innen zu seinen Rändern hin als einem Anderen1. Dies sei das Reich der Naturwissenschaften, der es allein aus diesem Grunde möglich sei, ihre ehernen Gesetze zu formulieren. Es ist das Reich des Zugs und Stoßes. Es ist ein festes, fest geschnürtes Sein2. Im Unterschied zu diesem bestehe das Reich des Lebendigen in einer Lockerung3 der Verhältnisse. Und diese Lockerung bestehe zuallererst in der Grenze, welche dem lebendigen Ding selbst angehöre. Die Grenze sei ebenfalls ein Ort des Zusammentreffens wie der Rand, doch im Unterschied zu diesem sei die Grenze transparent und vermittele die vormals aneinanderstoßenden Gegenstände gegensinnig miteinander.
Der Begriff der Positionalität
Im Begriff der „Positionalität“1 konzentriert sich der Unterschied zwischen belebten und unbelebten Dingen. Positionalität bezeichne jene Lockerung des Seins, welche das Lebendige in eine spezifische Ferne zu seinem Umfeld rücke. Es sei der Ausdruck des Inneren eines Organismus. Positionalität sei keine räumliche, sondern eine raumhafte Vorstellung, und die Distanz, welche sie kennzeichne, bestehe in ihrer spezifischen Ferne zu den Grenzen des lebendigen Dinges hin, und darüber hinaus zu den Sinnesorganen, Atmung, Stoffwechsel und Gleichgewichtssinn etc. Die Grenze wiederum vermittle dieses Innen gegensinnig mit seinem Umfeld. Diese Dynamik gestatte es dem seine Grenze habenden Ding, die Festigkeit und Undurchdringlichkeit des unbelebten Seins zu lockern. Es könne zu diesem in Stellung gehen, eine Stellung, eine Position zum Sein einnehmen. Nun erst werde die trennend-verbindende Funktion der Grenze offensichtlich, indem durch sie hindurch ein Innen zu dem es umgebenden Sein, einem Außen, vermittelt werde. Durch die gegensinnige Vermittlung der Grenze sei eine spezifische Ferne zwischen dem Innen des Lebendigen zum Außen entstanden: Positionalität. Im Prozess der Vermittlung „über ihm hinaus“ sowie „in ihm hinein“ drücke sich eine Lockerung des lebendigen Seins aus. Die Grenze verwandele die anstoßenden und ziehenden Verhältnisse in ein Innen und ein Außen2.
Ein lebendiges Ding ragt aus den Stoß- und Zugverhältnissen des unbelebten Seins durch die Komplikation der Lockerung heraus, kann damit einen Platz im Sein behaupten und nicht nur ausfüllen. Die anstoßenden Verhältnisse sind für es ein Außen.
Diese topologische Überlegung gilt ebenso chronologisch. Das lebendige Ding als ein seine Grenze Besitzendes vereinigt Werden und Beharren.
Zusammengefaßt: ein lebendiges Ding kann existieren, weil es möglich ist, die grenzbedingten Seiten des Werdens und Beharrens zum Prozeß zu vereinigen, ohne damit die phänomenale Dingkörperlichkeit selbst aufzugeben und dem Prozeß zum Opfer zu bringen. Das Ding hält sich dem Prozeß gegenüber nicht fern, sondern nur in ihm begriffen bleibt es Ding. Wodurch? Durch Abhebung 1. der Dinglichkeitscharaktere, 2. des Typus oder der Formidee von der faktisch in den Prozess hineingezogenen dinglich-körperlichen Form. Um der Konstanz der Dinglichkeit willen, die im Prozess verloren gehen müsste, ist die Körpergestalt des lebendigen Dinges typisch oder seine Form dynamisch.3
Der Modus des Prozesses heißt Entwicklung4 und die Formidee nennt sich das Vorwegseiende. Damit stelle sich für das lebendige Ding Entelechie als Seinsmodus ein5, aber nicht als Naturfaktor, sondern allein entsprechend der spezifischen Distanz des lebendigen Dinges zu seinem Umfeld. Entwicklung bedeutet hier eine zweifache Beziehung zum Sein: dem Beharren bleibt ein Sein, es ist dem Werden entzogen, denn „dem Prozess als Entwicklung [ist] das Sein als das Werdende entzogen.“6
Da das lebendige Ding „über ihm hinaus“ sei – auch zeitlich –, ergebe sich in diesem Werden Gegenwart, da „das Ding nur insoweit ist, als es kommt.“7 Dort, wo die Chronologie des Seins gelockert ist, wo es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, erscheine die Frage nach dem Tod. Plessner konstatiert dem Leben die Schicksalsform von „Jugend, Reife, Alter, weil sie dem Entwicklungsprozess wesentlich sind.“8 Doch er sagt auch, „Leben ist nicht Sterben“9. Denn wenn es so wäre, müsste der Tod ein Teil des Lebens selbst sein, das Leben würde mit dem Tod nicht enden. Zwischen Leben und Tod konstatiert Plessner eine „Hiatusgesetzlichkeit“10. Das Leben schaffe nur die Voraussetzungen für seinen Tod, müsse aber schließlich von diesem überwältigt werden: „Tod und Leben sind unvermittelt als absolute Gegensätze im Akt des Sterbens aufeinander bezogen.“11
Mit dem Tod sinkt das lebendige Ding ins Sein zurück. Die einstige Lockerung des Seins, welches sein Wesen darstellte, zerfalle, die Grenze verwandelt sich zurück zum Rand. Das von der Grenze Umschlossene ist gelöst.
Als ein Ganzes sei das lebendige Ding Körper, als ein in ihm Seiendes könne es Körper haben. Doch „wie gewinnt diese Binnenhaftigkeit des »Kerns« Realität?“12 Sie gewinnt diese dadurch, „dass sie als Potenz, als Vermögen, wirkliche Möglichkeit erscheint.“13
Weil das lebendige Ding ein organisiertes vielfältiges Ganzes sei, sei es in sich selbst mit sich vermittelt und besitze infolgedessen Potenzen.
Infolgedessen sind die Potenzen, weil sie das Lebewesen hat; hat sie das Lebewesen, weil sie den Gesamtbestand seines realen Seins bilden. Man kommt nicht darum herum, lebendiges Sein als seiende Möglichkeit und in seiner Beziehung zur seienden Wirklichkeit des vorhandenen greifbaren Körpers näher zu bestimmen.14
Das Lebewesen besitze als ein in sich selbst vermitteltes Ganzes die Potenz, und zwar als ein Sich-selbst-voraus-Sein, und es ergibt sich somit eine Perspektive der Umkehrung des physikalischen Zeitverlaufs von der Vergangenheit durch die Gegenwart zur Zukunft. Denn als ein wirklich Seiendes habe