Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
Скачать книгу
alle dieselben Vorlesungen, Mediziner, Mathematiker, Landwirte, Apotheker, und ich weiß nicht wer noch …»

      In diesem Augenblick ertönte die Klingel. «Da kommt schon einer!» rief Frau Barbara. «Das ist Severin, der kommt immer zuerst.»

      «Hm», machte Ammann, während Fred sich mit betonter Gelassenheit erhob, «ich habe ja prinzipiell nichts dagegen, nur … ich finde, es ist schade um deine zwei Semester … ja, schließlich mußt du selber wissen, was du willst …»

      «Jaja!» sagte Fred mit einer erledigenden Handbewegung, schlenderte zur Tür und stieg draußen weit ausholend mit verschmitzter Miene in sein Zimmer hinauf.

      «Paul, sieh doch nach, ob es droben warm genug ist, ich will dann nicht schuld sein, wenn ihr frieren müßt», sagte die Mutter.

      Während Paul in den Musiksalon hinaufging, die vier Pulte an die hohe Stehlampe herantrug und die Noten auflegte, begrüßte Frau Barbara ihren ältesten Sohn Severin, der seinen Bratschenkasten behutsam abstellte und den Mantel auszog. «Wie geht’s den Kindern?» fragte sie schon nach den ersten flüchtigen Worten.

      «Ja …», begann Severin mit ernster Miene und bedachte sich einen Augenblick, um die denkbar genaueste Auskunft zu erteilen, indessen er sorgfältig den spärlichen Schnee vom Mantel schüttelte, den Mantel zusammengelegt dem Dienstmädchen übergab und mit beiden Händen seinen Rockkragen zurechtrückte, «… bis auf den Ueli geht es allen ordentlich. Der Ueli hat sich gestern etwas erkältet und hustet jetzt ziemlich stark. Heut abend hatte er nun ein wenig Fieber, 37,5 als ich wegging. Anna macht ihm Wickel, obwohl ich nicht überzeugt bin, daß dies unbedingt das Richtige ist. Übrigens ist Anna an der ganzen Geschichte selber schuld, sie packt ja die Kinder ein, als ob wir schon mitten im kältesten Winter wären, und will nicht begreifen, daß man sie allmählich an die Kälte gewöhnen muß … Guten Abend, Papa!»

      Ammann, der sich mit Freds Geständnis beschäftigt und schließlich den Vorsatz gefaßt hatte, weitere Aufklärungen zu verlangen, saß mit der Zeitung noch am Tische. «’n Abend, Severin!» sagte er in dem gewohnten lauten Tone, in dem er alle Welt zu begrüßen pflegte, und blickte spöttisch wohlwollend zu seinem Ältesten auf.

      Von allen drei Brüdern glich Severin dem Vater am meisten, er besaß den selbstgewissen Ausdruck seines Gesichtes, seine lebenskräftigen Augen, nur ohne den heitern Schimmer, eher mit einer gewissen Schärfe im Blick, und dieselbe klare, feste Stimme. Er war seit sieben Jahren mit einem unscheinbaren, braven Wesen verheiratet, hatte fünf mustergültig erzogene Kinder und erweckte den Eindruck eines sehr soliden, gutbürgerlichen Vierzigers, obwohl er erst dreißig Jahre alt war.

      «Hast du den Artikel da über den sozialen Ausgleich gelesen?» fragte Ammann, nachdem Severin sich gesetzt hatte, und hielt ihm mit demselben spöttischen Blick, mit dem er ihn begrüßt hatte, die Zeitung hin.

      «Jaja, das beginnt nachgerade langweilig zu werden», antwortete Severin mit einer wegwerfenden Handbewegung, doch sogleich setzte er sich zurecht und begann laut, lebhaft und klar diese Frage von seinem eigenen Standpunkt aus zu erörtern, wie Ammann es erwartet hatte. Er verfocht in sozialpolitischen Dingen mit einem gewissen Ehrgeiz sehr oft seinen eigenen Standpunkt, der sich mit dem der Partei nicht immer deckte, aber die ältern Herren waren noch liberal genug, auch seine Meinung gelten zu lassen. Er hatte zur Genugtuung dieser ältern Garde, die sich um den politischen Nachwuchs einige Sorgen machte, bald nach seinem glänzenden juristischen Staatsexamen die liberale Jugend zu organisieren versucht und war dann später zum Redaktor der jüngsten publizistischen Gründung gewählt worden, des «Ostschweizers», der die besonderen lokalen und ostschweizerischen Interessen mit mehr sozialpolitischem Verständnis vertreten sollte, als es den Hauptorganen der eidgenössischen Partei möglich war oder gut schien. Er befand sich damit in einer allgemein geachteten, nicht sehr einflußreichen, aber anständig bezahlten Stellung.

      «Hört doch auf!» rief Frau Barbara in heitrer Verzweiflung, als Severin fertig war und Ammann zur Entgegnung ansetzte. «Kaum haben sie einander gesehen, da fangen sie schon zu politisieren an! Ich finde, du kommst so selten hierher, Severin, daß man wahrhaftig über etwas Vernünftigeres reden könnte, wenn du schon einmal da bist. Und wollt ihr jetzt nicht wieder regelmäßig Quartett spielen wie früher? Oder Quintett? Gertrud käme gewiß auch gern!»

      Ammann fügte sich lächelnd und brach seine Erwiderung mit einem scherzhaften «Und so weiter» ab, während Severin die neue Frage sogleich ernsthaft aufgriff. «Ja, Mama, ich bin sehr einverstanden! Es hat überhaupt keinen Sinn, nur dann und wann zu spielen, dabei kommt nichts heraus. Ich bin immer dafür eingetreten, daß man regelmäßig spielt. Aber man muß sich eben auf die Leute verlassen können. Ich weiß ja nicht, was mit Paul nun los ist, ob er dableibt oder … was tut er denn überhaupt jetzt?»

      Ammann hob ein wenig die Schultern und machte mit der Rechten eine unbestimmte Bewegung.

      «Weißt du, Papa», fuhr Severin fort, «ich muß schon sagen … ich an deiner Stelle würde mir das nicht gefallen lassen. Paul hat jetzt über ein Jahr lang gebummelt, und er wird bestimmt weiterbummeln, wenn man ihn nicht in den Senkel stellt …»

      «Bitte, Severin, Papa hat sich alle Mühe gegeben, Paul eine Stelle zu verschaffen», warf die Mutter ein, während Ammann selber mit einem Anflug von Ärger die Zeitung zusammenfaltete.

      «Jaja!» sagte Severin leichthin, als ob er diese Bemühung nicht ernst nähme, stand lässig auf und legte dem Vater, während er langsam dicht an ihm vorbeiging, mit einer nachsichtigen Gebärde die Rechte auf die Schulter. «Wir kennen ja unsern Papa. Er hat immer ein gutes Herz gehabt, auch wenn es nicht nötig gewesen wäre …»

      Ammann lachte kurz auf und musterte seinen gestrengen Herrn Sohn, der mit einem Blick auf die Uhr zu einem Fenster hinschlenderte, nun wieder so spöttisch belustigt, daß auch Frau Barbara zu lächeln begann.

      «Man hat nicht nötig, sein gutes Herz zu verleugnen, wenn man solche Mustersöhne besitzt, nicht wahr», sagte Ammann mit aller Ironie. «Übrigens …» fügte er ernsthaft bei, «ich habe daran gedacht, ob man Paul nicht auf der Redaktion beschäftigen könnte. Du hast ja schon einmal davon gesprochen, einen Volontär einzustellen …»

      «Bitte!» antwortete Severin mit einer einladenden Handbewegung auf den Vater, der Mitglied der Redaktionskommission war. «In erster Linie hat ja der hohe Rat zu entscheiden, wenn es sich um einen bezahlten Volontär handeln soll. In zweiter Linie wird das von Pauls Einverständnis abhängen. Ich meinerseits bin sehr einverstanden. Wir könnten nicht nur einen Volontär, sondern einen dritten Redaktor brauchen. Ich würde Paul sofort das Feuilleton abtreten, außerdem müßte er freilich in allen Ressorts mitarbeiten, besonders im Lokalen …»

      «Jetzt kommt wieder einer!» rief Frau Barbara.

      «Ich will einmal mit Paul darüber reden», sagte Ammann. «Das wäre gar keine so üble Lösung … Übrigens, das weißt du auch noch nicht: Fred hat umgesattelt. Auf Naturwissenschaft!»

      «Soo …? Ach Gott, es weiß ja keiner mehr, was er will. Ich war allerdings nie überzeugt, daß aus Fred ein Jurist werden könnte … aber Naturwissenschaft! Hm! Wundert mich nur, wer ihm das in den Kopf gesetzt hat … Ja, da kommen beide miteinander, glaub’ ich … Zeit wär’s … ich will machen, daß wir anfangen können … Adieu, Papa! Vielleicht sehen wir uns nachher noch.»

      «Gaston!» rief Ammann laut und fröhlich, streckte mit einer willkommen heißenden Gebärde den rechten Arm aus und erhob sich, um seinen Schwager Professor Gaston Junod zu begrüßen, der, noch halbwegs in die Begrüßung der Hausfrau verstrickt, mit kleinen Schritten unter die Türe trat und nicht genau wußte, wohin er sich mit seinem Cello wenden sollte.

      Indessen stand draußen, bescheiden abwartend, ein schlanker junger Mann mit sympathischen Augen, dunklen, klugen Augen in auffallend schattigem Grunde, Albin Pfister, Pauls Freund. Als die Reihe an ihn kam, begrüßte er mit einiger Schüchternheit Frau Barbara und den Hausherrn, die ihn ihrerseits freundlich willkommen hießen. Gleich darauf blickte er mit einem offenen, freudigen Lächeln, das seine gesunde weiße Zahnreihe entblößte, Paul entgegen, der ihn rasch unter dem Arm faßte und die Treppe hinaufführte.