Paul preßte die Lippen zusammen, blickte mit emporgezogenen Augenbrauen in die Ferne und haßte den ehrlich entrüsteten kleinen Mann von Herzen.
Die zweite Dienstwoche schien ihm erträglicher, obwohl nun anstrengende Märsche und Übungen die Leistungsfähigkeit der Truppe auf die Probe stellten; die unangenehme Einzelausbildung hatte damit ihr ersehntes Ende gefunden, die Zeit verging rascher, und als auch die große Übung im Regimentsverband vor dem nahen Abbruch stand, begann er erleichtert aufzuatmen.
Er lief in der ausgebrochenen Schützenlinie seiner Kompagnie, die als Reserve zur Feuerunterstützung des Angriffs befohlen war, einen langgestreckten Hügel hinauf, während im Walde links davon zwei Bataillone in Linie bereitgestellt wurden. Am Rand der Höhe warf er sich hin und begann auf Kommando seine blinden Patronen zu verschießen. Vor ihm lag ein zweiter Hügel mit der markierten gegnerischen Stellung und einer schwarzen Zuschauermenge, von der sich in der klaren Morgenluft eine Gruppe höherer Offiziere und zwei Signalisten mit ihren manchmal aufblitzenden Instrumenten deutlich abhoben.
Paul wußte, daß sein Vater der Übung folgte und nachher das Defilieren abnehmen würde; er suchte ihn unter jenen Offizieren und erkannte ihn an seiner umfangreichen Gestalt und dem massigen Haupt mit der dreifach breit galonierten Mütze. Er zog das Gewehr an die Schulter und legte auf den Vater an. Es war eine unwillkürliche, halb spielerische, jedenfalls unbedachte Bewegung, und kaum hatte er Druckpunkt gefaßt, da schämte er sich, schoß anderswohin und lächelte verwundert über seinen eigenen Einfall. «Unsinn!» dachte er, während rechts und links von ihm die Schüsse knatterten und Verschlüsse riegelten. «Ich hasse ihn doch nicht? Er ist allerdings daran schuld, daß ich diese ganze Schweinerei da mitmachen mußte, aber er hat ja schließlich den Dienstzwang nicht selber eingeführt. Er ist überhaupt nichts aus sich selber, er ist nur eine Ausgeburt seiner abgestandenen Welt, über die er nicht hinaussieht, ein eingefleischter Schweizerbürger, den man besser abseits stehen läßt, da man ihn ja doch nicht ändern kann. Nein, ich hasse ihn nicht, er ist mir nur gleichgültig. Aber er sollte mich in Ruhe lassen, ich bin doch auch so anständig, nicht auf ihn zu schießen.»
Er lachte vor sich ins kurze Gras hinein, wälzte den Tornister, der ihm in den Nacken gerutscht war, seitlich auf die Erde und feuerte von Zeit zu Zeit einen Schuß ab, ohne das Gewehr auch nur anzuschlagen. «Vermutlich», dachte er ironisch grinsend, «würde ich ihn gar nicht getroffen haben. Unsereiner kann mit dem Schießprügel nichts anfangen, wir brauchen eine andere Waffe.»
Indessen hatte sich das Regiment da unten im Waldrand zum Angriff bereitgemacht und stürzte plötzlich unter Sturmsignalen mit Hurragebrüll auf das freie Gelände hinaus.
Die Reservekompagnie schoß ununterbrochen, bis die vordersten Linien die halbe Höhe des gegnerischen Hügels erreichten, dann stellte auch sie das Feuer ein und ging mit aufgepflanztem Bajonett ebenfalls auf den Hügel los; ehe sie aber den Hang erreichte, war oben die Stellung eingenommen, die Signalisten bliesen Gefechtsabbruch, die Bajonette wurden in die Scheiden gestoßen, der Feldweibel übernahm die Kompagnie, und die Offiziere gingen zur Kritik. Paul schob das Käppi auf den Hinterkopf, brannte sich eine Zigarette an und schlenderte, das Gewehr an der Laufmündung hinter sich herziehend, zum Sammelplatz, fest entschlossen, sich in Zukunft vor jedem Militärdienst rechtzeitig ins Ausland zu drücken.
Nachdem die Kompagnien auf freiem Felde eine Stunde geruht hatten, marschierten sie zur Sammlung des Bataillons und schließlich des Regiments auf die breite Landstraße, um vor dem Brigadekommandanten zu defilieren und den Rückmarsch nach Zürich anzutreten.
Oberst Ammann hatte statt eines regelrechten Defilierens in Paradeformation freilich nur den Taktschritt in Marschkolonne angeordnet. Er stand mit seinem Adjutanten und einem Generalstabsoffizier am Straßenrande bereit. Eine sichtbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, seine Bewegungen waren knapper als im Zivilleben, sein leutselig offenes, breites Gesicht zeigte einen beherrschten Ausdruck, und die kräftig schimmernden Augen verrieten statt der gewohnten Heiterkeit einen zielbewußten Willen. Er hatte den zivilen Menschen, der zur Bequemlichkeit neigte und sich gehen ließ, entschlossen abgestreift und war Soldat geworden.
Der Regimentskommandant, Oberstleutnant Fenner, kam dahergetrabt und meldete seinem Vorgesetzten die anmarschierende Truppe, dann stieg er aus dem Sattel und stellte sich neben Ammann in die Wiese. Fenner, ein großer, hagerer Mann mit einem gebräunten, knochigen Gesicht von mürrischem Aussehen und einem ungestutzten, über die Mundwinkel herabhängenden Schnurrbart, stammte aus einfachen Verhältnissen und war wegen seiner trockenen Sachlichkeit und seiner Geringschätzung aller Äußerlichkeiten bekannt. In seiner persönlichen Ausrüstung befliß er sich der strengsten Ordonnanz und trug eine sogenannte Briefträgermütze. Er galt als tüchtiger Offizier, ausdauernder Bergsteiger und sicherer Schütze. Ammann schätzte ihn hoch, nicht nur weil er ein zuverlässiger Führer, sondern weil er ein Mann aus dem Volke war und sein demokratisch einfaches, gerades Wesen auch als Offizier nie verleugnet hatte. Fenner seinerseits hielt von den Führereigenschaften seines Vorgesetzten nicht besonders viel, doch er achtete ihn als ruhigen, verständigen Mann, der jeder besseren Meinung zugänglich war und sich nicht, wie gewisse Generalstäbler, auf theoretische Ansichten oder persönliche Marotten versteifte.
Die vereinigten Bataillonsspiele zogen vorüber, schwenkten nach links und machten Front zur Straße, der Stab des vordersten Bataillons ritt vorbei, und nun rückte zu den Klängen des Defiliermarsches die lange Kolonne heran, Kompagnie um Kompagnie im Taktschritt, das Gewehr geschultert, das Gesicht dem Inspektor zugewandt.
Oberst Ammann wußte, wo sein Sohn Paul eingeteilt war, er suchte ihn dort in der Kolonne und sah ihn auch. Er sah sein bräunlich bleiches, verschlossenes Gesicht kurz auftauchen und empfand dunkel die Genugtuung, daß dieser rebellische junge Herr nun wieder fest in Reih und Glied gefügt war; er ließ sich dadurch aber keinen Augenblick vom gehobenen Bewußtsein der Aufgabe, die er hier im Namen des Landes erfüllte, zu einem väterlichen Gefühl ablenken. Sein ganzes Wesen befand sich in einem gesteigerten Zustande. Wie jeder fühlende Mensch durch ein eindrückliches Erlebnis über sich selber hinaus gehoben werden oder außer sich geraten kann, so war auch Ammann nicht mehr ganz er selber. Er stand regungslos da und blickte mit einer vor Ernst und Sammlung finstern Miene in die vorüberzuckenden Reihen der ihm zugewandten Gesichter. Vor jeder Fahne aber riß er seinen schweren Körper in die strammste Stellung, legte die rundliche Rechte an den Käppirand und grüßte das Feldzeichen mit einem langen, unerschütterlich gläubigen Blicke.
9
Fred sattelte im Wintersemester auf Naturwissenschaft um, ohne es seinen Eltern vorerst zu gestehen. Er schlug zu Hause nur eine neue Taktik ein, er murrte gelegentlich über diese langweilige Juristerei und brachte es soweit, daß der Vater ihn fragte, zu was er denn eigentlich Lust habe. Eines Abends nun, als ihm besondere Umstände einen leichten Rückzug ermöglichten, platzte er bei Tische mit dem Geständnis heraus. An diesem Abend wurden Severin, Gaston Junod und ein Freund Pauls zum Quartettspiel erwartet. Frau Barbara besprach während des Nachtessens mit Paul noch einmal die Bewirtung der Gäste, und um acht Uhr mochte bis zur Ankunft des einen oder andern nicht mehr viel fehlen. Da sagte denn Fred mit seinem kindlich schlauen Lächeln, die erste Geige werde gewiß der Herr Dr. Severin spielen, ein Jurist könne sich doch wohl nicht mit der Bratsche zufriedengeben. «Übrigens, Papa», fügte er leichthin bei, «wegen dieser Rechtsgelehrsamkeit … ich habe jetzt naturwissenschaftliche Fächer besetzt, die interessieren mich mehr.»
Ammann, der bereits das Abendblatt entfaltet und einen Artikel zu lesen begonnen hatte, ließ die Zeitung sinken und blickte seinen Jüngsten scheinbar verständnislos an. «Ja …», begann er dann gedehnt und voller Bedenken, schob mit leicht gerunzelter Stirn die Zeitung beiseite und schickte sich bedächtig an, nähere Erklärungen entgegenzunehmen. «Du hast also … Naturwissenschaft …? Hm, wie stellst du dir das in Zukunft vor?»
Fred, dem eben diese Erklärungen peinlich und unnütz erschienen, erwiderte, ohne die Fragen richtig zu beantworten,