Auf der Treppe blieb er stehen und sagte leise: «Ich möchte am liebsten gleich wieder abfahren. Ich ersticke hier …»
«Ach was, jetzt bleibst du da!» erwiderte sie bestimmt, drückte seinen Arm an sich und zog ihn weiter. «Solange wir noch hier wohnen, laß ich dich nicht mehr fort. Im Frühling ziehen wir aus. Das Haus ist verkauft. Auf Abbruch!»
Er blieb wiederum stehen. «Verkauft?» fragte er.
«Jaja, ich hab’ dir doch geschrieben, daß es dazu kommen werde», antwortete sie in einem so selbstverständlichen Tone, als ob es sich um das Alltäglichste handelte.
«Das ist nicht schlecht!» sagte er nachdenklich, während er neben ihr in den Garten hinausschlenderte, und gleich darauf begann er bitter zu grinsen. «Das sieht ihm ähnlich! Er hat nie gewußt, was er hier besaß, und daß es so etwas nicht zum zweitenmal gibt.»
Jetzt blieb die Mutter stehen. «Du hast gut reden», begann sie und schüttelte kräftig abweisend den Kopf. «Du weißt nicht, was uns dies alles gekostet hat, und was Papa dafür angeboten worden ist. Vor zehn, fünfzehn Jahren hat man sich das noch leisten können, aber heute, mitten in einem Geschäftsviertel …» Sie zählte ihm alle Gründe auf, die zum Verkauf geführt hatten, und schien mit Überzeugung ganz auf der Seite ihres Mannes zu stehen.
Paul ließ sich nicht überzeugen, er lächelte ironisch ergeben, aber am Ende sagte er, von einem andern Standpunkt aus allerdings, mit einer lässig abwinkenden Handbewegung: «Ach, schließlich ist es ja egal! Es geht sowieso alles dahin, und es hat keinen Zweck, in dieser Zeit noch etwas zu konservieren. Mir kann es jedenfalls egal sein.» Als die Mutter daraufhin mit enttäuschtem Ausdruck schwieg, nahm er ihren Arm. «Aber deinetwegen tut es mir leid, Mama!» sagte er aufrichtig. «Du hast doch hierher gehört! Für dich wird es nicht so leicht sein …»
«Nein, leicht ist es nicht!» erwiderte sie knapp. «Wir kommen in eine Mietswohnung, vorläufig.»
Sie gingen in der Wärme des klaren Mittags auf dem mittleren Weg über zerstreutes Herbstlaub bis zum spitz auslaufenden Ende des Gartens, wo man durch halbkahles Gesträuch zur Linken den grauen Asphalt der Straße und eilige Arbeiter gewahrte, die nach der Mittagspause in ihre Fabriken zurückkehrten. Aus der Gruppe, die eben daherkam, blickte ein breitschultriger Bursche zu ihnen herein; sie sahen plötzlich durch die Gitterstäbe sein verächtlich spähendes, dunkles Gesicht und hörten auch die häßliche Bemerkung, mit der er sich wieder den übrigen anschloß.
Schweigend kehrten sie um.
7
Frau Barbara ging aus, um Besuche zu machen. Früher hatte sie in einem solchen Fall anspannen lassen und sich in die Equipage gesetzt, doch in den Jahren des zunehmenden Autoverkehrs war das auffällige Gefährt abgeschafft worden; für ein Auto hatte Ammann sich inzwischen noch nicht entschließen können. Sie ging aber gern zu Fuß und fand es in Ordnung.
In der Dufourstraße trat sie neben einem Lebensmittelgeschäft durch die Haustür und wurde in der Stockmeierschen Wohnung vom Hausherrn mit überaus freundlicher Ehrfurcht begrüßt.
«Ja, also es tut mir außerordentlich leid, Frau Oberst», sagte Stockmeier, «aber es ist eine Fünfzimmerwohnung, nicht wahr, und ich kann da wirklich nichts machen …»
«So!» sagte Frau Barbara, die mit Stockmeier in dieser Angelegenheit ohne Erfolg telefonisch verkehrt hatte, und blickte bekümmert an ihm vorbei.
«Nicht wahr», fuhr Stockmeier fort, «das Separatzimmer im ersten Stock hier bewohnt mein Sohn, und … he he he …»
«Jaja, Sie können ihn nicht hinauswerfen, das ist selbstverständlich, aber … Sie haben mir noch von einem mittleren Mansardenzimmer gesprochen …»
«Jaa, Frau Oberst … zu Ihrer Wohnung gehören zwei Mansarden und eh … die mittlere Mansarde ist der größte Raum im Dachstock, ich könnte da nicht ohne weiteres … ja, ich habe doch mit dem Herrn Oberst fest ausgemacht, nicht wahr, für eine Fünfzimmerwohnung mit zwei Mansarden …»
Erst jetzt begriff Frau Barbara Stockmeiers Widerstand; dieser vorsichtige Geschäftsmann war also der Meinung, man versuche für sein Geld noch etwas mehr zu bekommen, als man vertragsmäßig erwarten konnte. Sie hatte nie daran gedacht und sagte ziemlich barsch: «Ich muß ein Zimmer mehr haben und werde Ihnen die Miete dafür besonders bezahlen.»
«Jaa, Frau Oberst, daas ist etwas anderes», antwortete er geschäftig. Er suchte sich also nicht einmal zu verstellen, und Frau Barbara blickte ihn beleidigt von oben herab an. Nach der bedächtig zögernden Erklärung, daß er die mittlere Mansarde bisher als Lagerraum benutzt habe und sie nicht einfach so hergeben könne, da es ihm überall an Platz fehle, ging er mit Vorbehalten darauf ein, und in wenigen Minuten hatte Frau Barbara das Mansardenzimmer gemietet.
Sie machte sich wieder auf den Weg, kaufte in einem Spielwarengeschäft einen aufrecht stehenden Bären und setzte sich schließlich doch in ein Mietauto, mit dem sie gegen Hottingen hinauf zu ihrer Tochter fuhr.
Das Haus, ein noch ziemlich neuer, herrschaftlicher Bau in etwas undeutlichem Stil, lag erhöht in einem kleinen Garten, durch den man auf einem Seitenpfad zum Haupteingang gelangte. Frau Barbara schritt durch die mit Marmor bekleidete kühle Halle freundlich nickend am Mädchen vorbei, das ihr geöffnet hatte, und wurde mit einem «Endlich!» von ihrer Tochter empfangen, die ihr langsam die Treppe hinab entgegenkam, langsamer, als sie es von Gertrud erwartete. Während sie Hut und Mantel ablegte und vor einem Spiegel flüchtig ihr Haar ordnete, befahl Gertrud dem Mädchen, den Tee anzugießen, dann betraten die Frauen das Wohnzimmer, einen behaglichen weiten Raum mit einem braunroten Perser, der einen bemalten Kachelofen, den Flügel, ein eichenes Büffet und die überall verteilten Blumen willig in seinen herbstlich warmen Ton aufnahm; nur der kleine, weißgedeckte Teetisch in der Ecke vor dem Sofa entzog sich ihm freundlich.
«Seit mehr als einer Woche bist du nicht mehr dagewesen, Mama», sagte Gertrud mit halb ernstlichem, halb scherzhaft kindlichem Vorwurf. Sie war so groß wie die Mutter, nur schlanker, biegsamer, aber nicht mager, eine stattliche Gestalt in einem unauffälligen Hauskleid. Ihr dunkelbraunes Haar floß in wenigen Wellen gelockert nach hinten in einen tiefsitzenden Knoten zusammen, ihr Gesicht war anziehend eigenwillig, ihre bräunlichen Augen hatten einen klugen, vertrauenerweckenden Blick.
«Ja, was meinst du, ich kann daheim auch nicht immer weglaufen», antwortete die Mutter und zählte rasch ein paar Gründe dafür auf, dann fragte sie, gesammelt und eine mehr als oberflächliche Antwort erwartend: «So, wie geht’s?»
«Hm!» machte Gertrud und zuckte die Achseln.
Die Mutter blickte sie forschend an, und wohl niemand außer ihr hätte in diesem aufgeschlossenen, jugendlich frischen Frauenantlitz so genau bestätigt gefunden, was sie vom ersten Augenblick des Wiedersehens an gespürt hatte, nämlich, daß es ihrer Tochter ohne ersichtlichen Grund noch immer an all dem Schwung und der Spannung fehlte, die sie sonst zu jeder gesunden Stunde selbstverständlich geäußert hatte. «Du siehst einfach schlecht aus», sagte sie vorwurfsvoll. «Nach zwei Monaten sollte man sich anders erholt haben.»
«Ach, Mama … ich habe mich wirklich erholt …»
«So geh doch mehr an die frische Luft! Reitest du denn nicht mehr?»
Gertrud schüttelte kurz und entschieden den Kopf, so entschieden, als ob sie überhaupt nie mehr zu reiten gedächte.
«Früher hast du den ganzen Sommer durch Tennis gespielt und bist fast jeden Tag ausgeritten … das hat dir doch so gut getan … man kann nicht nur immer daheim sitzen, Bücher lesen und Klavier spielen …»
Das Mädchen kam mit dem Teebrett, Gertrud erhob sich, nahm ihm die Kanne ab und ordnete den Tisch, während Frau Barbara leise ins Nebenzimmer ging und sich über