«Jaja, über den Journalismus sind wir einig, nicht wahr … aber ich werde nicht darin untertauchen, ich möchte ihn nur ein wenig beriechen. Höre, Albin! Ich könnte am ‹Ostschweizer› das Feuilleton übernehmen …» Und nun begann er dem Freunde eifrig seinen Plan zu entwickeln, einen Plan voll guter Einfälle und lobenswerter Absichten, der nur den einzigen kleinen Fehler hatte, daß er nicht der Redaktionspraxis, sondern dem Kopf eines hochzielenden jungen Mannes entsprang.
Albin hörte mit erzwungener Teilnahme zu, enttäuscht und heimlich bedrückt von diesem Eifer seines Freundes für eine Angelegenheit, über die sie noch gestern einträchtig die Achsel gezuckt hätten. Er sagte am Ende wenig dazu, und nachdem Paul ihn verlassen hatte, suchte er sich einzureden, daß dies alles an ihrem gegenseitigen Verhältnis nichts zu ändern vermöge. Aber die Enttäuschung verließ ihn nicht, und ein anderes, unangenehmes Gefühl gesellte sich rasch hinzu, eine leise Angst, die er bisher nicht wirklich gekannt hatte, die Angst des im Nebel kletternden Bergsteigers, der seinen Kameraden plötzlich eigenwillig einen neuen, ihm nicht erreichbaren Pfad einschlagen sieht.
11
Eine Woche später saß Paul als Redaktionsvolontär an seinem Arbeitstisch.
Der «Ostschweizer» erschien einmal täglich, kurz vor Mittag, im Umfang von sechs bis acht Seiten. Als verantwortliche Redaktoren zeichneten Dr. Severin Ammann und Erwin Schmid. Das Blatt stand unter der Aufsicht einer Redaktionskommission, die gelegentlich einen Leitartikel schickte. In einem Seitengäßchen des Limmatquais befand sich die mit der Herausgabe betraute Druckerei und Verlagsanstalt; der Redaktion hatte man im zweiten Stock desselben Hauses zwei Zimmer mit dem Blick auf die Limmat eingeräumt.
Severin war klug genug, die journalistische Erziehung des Bruders für den Anfang seinem Kollegen zu überlassen, und unter Schmids Augen hatte Paul in einem raucherfüllten, mit Zeitungen, Büchern und Broschüren unordentlich vollgestopften ehemaligen Wohnzimmer seine Tätigkeit denn auch aufgenommen. Mit Vergnügen bemerkte er das scheinbar planlose Durcheinander auf Schmids Arbeitstisch, und schon in den ersten Tagen, während er sich über diese Hilfsmittel des Geistes noch sarkastisch wunderte, bedrängten sich auch auf seinem Tische Leimtopf, Schere, Tintenfaß, Aschenbecher, Schreibpapier und Manuskripte; außerdem lagen unaufgeschnittene Broschüren da, die vielleicht auch er nicht aufschneiden würde, Stöße gelesener Zeitungen, die von Severin über Schmid zu ihm gelangt waren, und Bücher, Besprechungsexemplare, die zu lesen bis jetzt noch niemand Zeit gefunden hatte.
Von Anfang an wurden ihm die Einsendungen für das Feuilleton vorgelegt, in der Mehrzahl dilettantische Bemühungen, deren Wert nur ausnahmsweise dem geringen Honorar entsprach, das die Zeitung dafür bezahlen konnte; er las sie grinsend durch und mußte auf Schmids freundlich heitere Einsprache hin doch dies und jenes in den Setzraum befördern, weil es von einem Mitarbeiter stammte, den man nicht vor den Kopf stoßen durfte. Schmid und Severin warfen manchmal Ausschnitte aus andern Zeitungen vor ihn hin, mit der Aufforderung, sie für das Feuilleton entweder zu kürzen oder «etwas daraus zu machen», und es stand ihm nicht an, das zu verweigern. Zu seinem Mißvergnügen hatte Schmid auch den neuen Roman schon gewählt, der die laufende Kriminalgeschichte ablösen sollte; er stammte aus der Feder eines ausländischen Vielschreibers und kostete als Zweitdruck fünfzig Franken. Es zeigte sich, daß man für das Feuilleton kein Geld übrig hatte, und Pauls schöner Plan blieb vorläufig dort, wo er entstanden war.
Trotzdem ließ sich Paul noch nicht entmutigen, er schrieb kluge und witzige kleine Betrachtungen über literarische Gegenstände, die seiner Meinung nach brennend aktuell waren, und berichtete gewandt über Theateraufführungen und Konzerte. Dies vermochte ihn aber nach Severins Meinung nicht ernstlich genug zu beschäftigen, und bald wurden aus dem täglichen Zustrom von Nachrichten die unpolitischen seiner Hand anvertraut. Er hatte sie so rasch wie möglich auf ihre sprachliche Richtigkeit hin zu prüfen, allenfalls zu kürzen, gewisse Worte hervorzuheben und die Papierstreifen, auf die eine sparsame Agentur sie zusammengedrängt hatte, zerschnitten und mit Überschriften versehen dem Setzer zu übermitteln. Dabei erlebte er, daß Erwin Schmid seine sachlichen, oft wohl auch umständlichen Titel nachträglich durch auffälligere oder knappere ersetzte und ihm auf diese angenehme Art eine wichtige Lehre erteilte.
Zwischen Paul und Schmid entwickelte sich ein oberflächlich freundschaftliches Verhältnis, das seinen besonderen Grund in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen Severin hatte. «Lesen Sie seine Thronrede!» sagte Schmid, als sie am Silvesternachmittag, die fertige Neujahrsnummer vor sich, noch eine müßige Viertelstunde auf der Redaktion verbrachten. «Da zeigt er sich von einer besondern Seite. Sehr lesenswert!»
Paul nahm die Nummer zur Hand und begann Severins Neujahrsbetrachtung zu lesen. Der vier Spalten lange Artikel trug als Überschrift die neue Jahreszahl: 1914. «Warum sollten wir vor der Zukunft bangen?» fragte Severin im ersten Absatz. «Es liegt in unserer Hand, dem Staatsschiff seinen festen Kurs aufzuzwingen und damit den Schleier zu zerreißen, der unser Heute vom Morgen trennt. Mit der bei uns beliebten Schlafkappenpolitik kann dies allerdings nicht geschehen, so wenig wie wir damit der Drosselung des wirtschaftlichen Lebens begegnen konnten, die infolge der gespannten internationalen Lage unser Land so sehr in Mitleidenschaft gezogen hat. Indessen wollen wir nicht verhehlen, daß mit der von uns schon längst verlangten eidgenössischen Verwaltungsreform bereits ein starker Schritt in die Zukunft getan wird. Wir werden endlich ein politisches Departement mit einem ständigen Vorsteher haben und dadurch in die Lage versetzt sein, der Welt gegenüber kontinuierlich und mit ganz anderm Gewicht, als es bisher möglich war, aufzutreten. Nennen wir den Mann noch einmal, dem wir das Steuer in die Hand zu geben wünschen: es ist Bundesrat Hoffmann. Mit scharfem Geist und starkem Willen wird er für die Stellung kämpfen, die die älteste Demokratie der Welt zum mindesten in Europa einzunehmen berechtigt ist.»
Nach einer einläßlichen Betrachtung der außenpolitischen Lage fuhr Severin fort: «… diese blutigen Wirren auf dem Balkan und die damit verbundene politische Kraftprobe der zwei großen europäischen Interessentengruppen haben das Gespenst eines gewaltigen Krieges heraufbeschworen. Der Dreibund hat erreicht, was er erreichen wollte, während die Tripelentente eine empfindliche Niederlage erlitt. Die unmittelbare Folge davon war jene gegenseitige großartige Steigerung der Rüstungen, die der Sozialdemokratie so sehr auf die Nerven geht. Die Großmächte stehen heute bis an die Zähne bewaffnet da; ihre Rüstungsausgaben haben horrende Summen erreicht, die man sich vor wenigen Jahren noch nicht einmal träumen ließ. Das ist für alle Zaghaften und Unentschiedenen ein ungemütlicher Zustand. Die Stellung, die man vielfach auch bei uns dieser Lage gegenüber einnimmt, mag der ehrlichen Sorge um unser Land entspringen, das geben wir gern zu. Und wenn in unserm eigenen Lager, in unsern Parteiorganen, im Tone der Verurteilung, ja des Abscheus davon gesprochen wird, so mag auch dies seinen menschlichen Grund haben. Wir alle wollen ja den Frieden. Aber Gott behüte uns vor einem schlaffen und schläfrigen Frieden. Die Spannung, in der sich die Völker jetzt befinden, ist ein Lebenselement, das dem Aufstieg nur förderlich sein kann. Das eine Beispiel, Deutschlands Macht und Größe, sollte uns doch die Augen öffnen. Eine ungeheuer straffe Organisation und Konzentration hat das deutsche Volk zu einer Kraftentfaltung ohnegleichen geführt. Und wenn es zum Krieg kommen sollte, was wir nicht glauben, – sind nicht Völker durch Kriege groß geworden? Vergessen wir doch die Geschichte nicht! Wir bedauern das Unglück auch, das ein Krieg im Gefolge haben kann, aber wir sind nicht sentimental genug, um gegen notwendige Entscheidungen zu protestieren …»
Paul warf die Zeitung grinsend auf den Tisch.
«Gelesen?» fragte Schmid.
«Ja … merkwürdig! Seit wann gibt es denn solche Demokraten? Die ältern Herren sind doch so friedlich gesinnt! Hm … jaja, die deutsche Zucht … Nur schade, daß Severin nicht unter einem preußischen Feldweibel Dienst machen darf …»
«Ja, wie ist das, macht er überhaupt Dienst?» fragte Schmid. «Ich hab’ ihn noch nie in Uniform gesehen … er muß doch mindestens Hauptmann sein?»
«Nein, er hat einen zu dicken Hals, Struma … man sieht’s ihm kaum an, aber … er ist