Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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hatte sich mit einem Nagelscherchen auf den Bettrand gesetzt und hörte aufmerksam zu. Er wußte nichts von alledem, und Pauls Versäumnis machte ihm auch keinen besonderen Eindruck, aber er empfand sogleich eine Erleichterung seiner eigenen Lage. Wenn sich Papa in schlechter Laune befand, war es ausgeschlossen, ihm eben jetzt ein Geständnis zu machen. Er brauchte vorläufig nichts zu sagen. «Ach, vom Dienste drückt sich jeder, wenn er kann», antwortete er leichthin. «Und er hat ja seinen Doktor!»

      «Jajaja, mit dem Doktor allein ist es nicht gemacht! Daraufhin gibt ihm niemand auch nur einen Rappen. Es laufen genug Doktoren herum … Aber zieh dich jetzt an, sonst kommst du noch zu spät zum Essen.»

      «Ja … so geh du jetzt!» befahl er scherzhaft und drehte sie an den Schultern der Tür zu. «Hinaus!»

      «Jaja, wird sich wohl machen!» rief sie heiter, entwand sich ihm und versorgte noch ein Wäschestück.

      Er begann mit ihr zu raufen wie ein kleiner Junge und drängte sie allmählich zur Tür. Sie wehrte sich belustigt, kreischte unter seinen Griffen ein wenig auf und teilte ihm Püffe aus, dann schlüpfte sie hinaus und eilte mit einem glücklichen Lachen rasch und leicht die Treppe hinab.

      5

      Ammann begab sich in die Dufourstraße zu Stockmeier, kurz nachdem ein Regiment seiner Brigade den Wiederholungskurs ohne den Füsilier Paul Ammann angetreten hatte, und die Stelle am Graberschen Institut nach einem freundlich gewährten Aufschub besetzt worden war. Er ging im Zivilleben grundsätzlich zu Fuß, um sich Bewegung zu schaffen, und trat nach einem halbstündigen Gang neben Stockmeiers Lebensmittelgeschäft durch die Haustür, entschlossen, auf Paul keine Rücksicht mehr zu nehmen und die Wohnung im zweiten Stock endgültig zu mieten.

      Er wurde von Leo empfangen, dem einzigen Sohn Stockmeiers, einem außerordentlich freundlichen, sorgfältig gekleideten, schon ziemlich fetten Burschen mit vollen Wangen und zurückgekämmtem öligem Haar. «Ich will gleich den Vater rufen, einen Augenblick bitte, Herr Oberst!» sagte Leo lächelnd und verließ die Wohnstube geräuschlos. Nach zwei Minuten schon kehrte er mit dem Bescheid zurück, der Vater werde sogleich kommen. «Darf ich Ihnen etwas anbieten, Herr Oberst?» fragte er eindringlich und erkundigte sich dann, als Ammann dankend ablehnte, nach Fred. «Ich muß in zehn Tagen auch einrücken, mit dem andern Regiment», erklärte er, immerfort lächelnd. «Wir haben zusammen die Rekrutenschule gemacht und ich hätte mit ihm auch in die Unteroffiziersschule einrücken sollen, aber dann war ich leider geschäftlich verhindert. So sind wir dann auseinandergekommen. Ich hoffe aber, daß ich die Schule im Frühling machen und dann im Sommer in die Aspirantenschule einrücken kann.»

      «Soo, das ist recht, das kann Ihnen nichts schaden!» antwortete Ammann wohlwollend und etwas scherzhaft. Er hielt diesen Leo nicht gerade für einen auserwählten Soldaten und zweifelte einigermaßen an seiner Eignung zum Offizier, doch er besaß in diesen Dingen eine weitherzigere Auffassung als gewisse Herren von der Instruktion. Der junge Mann da mochte es immerhin versuchen.

      «Ja, ich habe Freude am Militär», sagte Leo und fuhr dann fort, in einer so liebenswürdig aufdringlichen Art seine Dienstwilligkeit zu bezeugen, daß sein hoher Vorgesetzter ihn schließlich nach andern Dingen fragte.

      Indessen erschien sein Vater, und sogleich zog sich Leo mit einem gewinnenden Lächeln und einer leichten Verbeugung diskret zurück.

      Stockmeier, ein untersetzter, fester, kurzhalsiger, sehr beweglicher Fünfziger mit einer hübschen Glatze, aber im Nacken mit Haaren bis über den Kragenrand hinaus, erschien ebenfalls lächelnd; sein rundes Gesicht mit der knolligen Nase und den leicht zugekniffenen Augen besaß einen gewitzten, beinahe schlauen Ausdruck, der sich auch diesem Lächeln mitteilte, ohne es in seiner arglosen Freundlichkeit zu entstellen. Wie er in seinen Hausschuhen rasch und federnd auf Ammann zuging, mit einem erfreuten «Soo, grüezi, Herr Oberscht», rieb er noch verbindlich die Hände, nickte grüßend und streckte ihm die rundliche Rechte hin.

      Als er den Zweck von Ammanns Besuch ohne Umschweife erfuhr, nahm sein Lächeln ein wenig ab, ohne ganz zu verschwinden, er hob die Brauen und setzte sich mit einem Ausdruck zuvorkommender Bereitschaft dem Besucher gegenüber.

      Ammann selber zeigte eine leutselig heitere Miene, bewahrte aber jene Zurückhaltung, die er im Verkehr mit einfachen Leuten seinem öffentlichen Ansehen und seiner Stellung schuldig war. Stockmeier spürte diese Zurückhaltung genau, fand sie aber angemessen und benahm sich am Ende der friedlichen Verhandlung beinahe untertänig.

      Sie wurden einig, der hohe Besucher mietete die Wohnung und nahm leutselig Abschied, Stockmeier öffnete ihm die Türe, half ihm draußen in den Überzieher und begleitete ihn bald zur Rechten, bald zur Linken, wie es sich eben ergab, eifrig und dienstbeflissen auf die Straße hinaus.

      Ammann fühlte sich durch dieses Verhalten des Mannes geschmeichelt, doch nur an der Oberfläche. Er kannte diese Art von Bürgern; solange man ihr Vertrauen besaß, von ihnen gewählt wurde und ihre Interessen vertrat, war man ihr großer Mann, aber sobald man ihnen in die Quere kam, sank man unweigerlich in ihrer Achtung und konnte bei allen Verdiensten öffentlich aufgefordert werden, ihnen, schonend umschrieben, den Hobel auszublasen. Dies alles bildete für einen Volksvertreter noch keinen Grund zur Verachtung, man war daran gewöhnt.

      Er überschritt die Seefeldstraße, bog in einen vom Verkehr unberührten Weg ein und stieg gemächlich den erst teilweise überbauten Riesbacher Hang hinan, um da oben ein zweites, nicht so wichtiges und dennoch viel schwierigeres Geschäft zu erledigen. Das Haus, dem er zustrebte, war schon von weitem zu sehen, ein nicht sehr geschmackvoller, aber solider und eigenwilliger Bau mit einer Gartenterrasse am Abhang, das Haus seines Schwagers und Divisionskommandanten Boßhart. In diesem Hause hatte er als junger Leutnant seine Frau kennengelernt, die Verbindung mit diesem Hause war für die Anfänge seiner Laufbahn entscheidend gewesen und hatte schließlich auch das Schicksal Gertruds bestimmt, seiner Tochter, die ihrem Gatten Albrecht Hartmann, einem Instruktionsoffizier, hier zum erstenmal begegnet war. Dennoch betrat er dieses Haus nur noch aus triftigen Gründen; er ging lieber nicht zu Boßhart, wenn er es vermeiden konnte. Diesmal handelte es sich um seinen Schwiegersohn Hartmann, der auf Neujahr 1914 das Kommando des Regiments erhalten sollte, das eben jetzt im Wiederholungskurs stand. Er war nicht damit einverstanden, es gab noch andere Lösungen.

      Vor dem Hause hielt irgendein Dienstwagen, die Ordonnanz ging rauchend auf und ab, und im Hausgang hingen über den Säbeln zwei Majorsmützen von Artilleristen. Er ließ sich durch das Mädchen sogleich anmelden, betrat den Salon und war darauf gefaßt, eine halbe Stunde lang warten zu müssen. Aber kaum hatte er sich mit einer militärischen Zeitschrift an ein Fenster gesetzt, als der Divisionär durch eine Nebentür eintrat.

      Boßhart war größer als Ammann, aber ebenso beleibt, doch stand dieser sozusagen zivile Umfang in keinem schlechten Verhältnis zur ganzen Gestalt, die in ihrer Breite und Mächtigkeit fast bedrückend wirkte. Eine solche Gestalt ist bei einem gutmütigen, freundlichen oder auch nur lässigen Mann erträglich, aber Boßhart erweckte den gegenteiligen Eindruck, er sah hart, unfreundlich und völlig beherrscht aus. Sein Kinn verschwand in einem kurz zugestutzten, grauen Bart, der sich auf den Wangen so undeutlich verlor, daß man nie genau wußte, ob der Mann rasiert war oder nicht. Eine auffallend schmale, hämisch wirkende Nase mit weiten dünnen Nüstern und zwei durchdringend klare, sachlich blickende Augen nahmen seinem Äußern schließlich jede Spur von Humor und Leutseligkeit. Es gab unter den rund zwanzigtausend Männern der Division vermutlich kaum einen, der ihn liebte, er wurde höchstens gefürchtet; dennoch besaß er das Zutrauen der ganzen Division in einem Maße wie keiner seiner Vorgänger.

      Dieser Mann, seiner Stellung nach übrigens in jedem andern Lande vom Rang eines aktiven Generals, trat hier nun einem seiner Brigadekommandanten entgegen, der zudem sein Schwager war, aber nicht das geringste Zeichen von Wohlwollen erhellte seine Miene. Er gab Ammanns Gruß zurück und fragte knapp nach seinem Begehren.

      «Ich möchte etwas mit dir besprechen, aber nachher», antwortete Ammann mit einer abwinkenden Handbewegung. «Du hast Artilleristen in Arbeit, wie ich gesehen habe, ich kann warten.»

      «Das geht zu lange!» erwiderte Boßhart. «Es handelt sich um die kombinierte Brigadeübung im Unterland. Sie wissen nie, was sie hinter der Infanterie