Frau Barbara trat zögernd vom Bette weg und schaute flüchtig noch einmal zum Mädchen hinüber, dann blieb sie in einer Ecke des Zimmers vor einem Diwan stehen, den sie hier noch nie bemerkt hatte, hob prüfend seine schwere, goldbestickte Decke und stutzte; unter der Decke erschien Gertruds feines, leinenes Bettzeug. «Wer schläft denn hier?» fragte sie aufblickend.
Gertrud, die schon unter der Tür stand, antwortete unsicher, mit einer Miene, die alles verriet, mit einem müden, hilflos verlegenen Lächeln: «Ich!»
Die Mutter kniff den Mund zusammen und setzte sich mit dem Ausdruck beleidigten Erstaunens an den Teetisch. «Man muß auch nicht gleich zu weit gehen», sagte sie verurteilend. «Ich habe mit Papa früher manchen Streit gehabt, aber deswegen bin ich ihm nie davongelaufen. Nicht häufiger als Albrecht daheim ist …» Sie schüttelte energisch den Kopf.
Gertrud goß umständlich Tee in die Tassen, während sie langsam die Fassung verlor. «Ich streite ja gar nicht mit ihm», erwiderte sie tonlos und setzte sich steif auf das Sofa neben die Mutter; ohne daß sie es verhindern konnte, überliefen ihr die feuchten Augen.
Frau Barbara blickte betroffen auf, dann zog sie die Tochter zu sich heran, und Gertrud barg schluchzend das Gesicht an ihrer Schulter.
Die Mutter blieb lange stumm, halb aus Absicht, halb aus Ratlosigkeit. Endlich aber bat sie leise, in dem behutsamen, raunenden Tone, den nur ihre Kinder kannten: «Du, sag’ es mir, rede!»
Gertrud konnte über das lang Verschlossene nicht so rasch reden, es schien ihr viel zu schwierig, und so begnügte sie sich damit, Mamas schonende Fragen bald zu verneinen, bald mit wenigen Worten undeutlich zu beantworten.
«Bist du auf jemand eifersüchtig?»
Gertrud schüttelte den Kopf.
«Quält er dich?»
«Jetzt nicht mehr!»
«Hm … ich habe Albrecht immer für einen ritterlichen Mann gehalten.»
«Ja … aber er ist nur ein Mann, immer nur der Mann …»
«Ja, Kind, du hast doch mit offenen Augen geheiratet … ein Berufsoffizier, mein Gott, du warst ja vernarrt in ihn, aber du mußt ihn doch gekannt haben …»
«Ja … aber mich nicht!»
Während die Mutter abermals verstummte, richtete Gertrud sich auf und schaute dann, schlaff zurückgelehnt, mit verschleiertem Blick hoffnungslos vor sich hin.
«Weißt du», begann Frau Barbara wieder und ergriff Gertruds Rechte, die kraftlos neben ihr auf dem Sofa lag, «manchmal ist man halt selber auch nicht ganz ohne Schuld … aber wenn man sich ausspricht und beide den guten Willen haben, einander zu verstehen, dann, sollte man wahrhaftig meinen …»
«Mama, ich habe alles versucht … aber … er hat so gar keinen innern Kontakt mit mir … ich lebe wie in einer andern Welt, und ich kann ihm das lange begreiflich machen … er versteht es nicht oder will es nicht verstehen … und dann kommt er doch immer und … und verlangt von mir … ohne Rücksicht …» Sie wurde wieder von innen her geschüttelt, legte die Stirn plötzlich noch einmal an Mamas Schulter und schluchzte laut: «… und ich kann doch nicht, ich kann es doch nicht!»
Die Mutter schwieg. Ihr Gesicht, das den stolz beherrschten Ausdruck sonst wie gestempelt trug, schien von allem Bewußtsein verlassen, ein schmerzlicher Gram, der sich allmählich in Zorn verwandelte, entstellte ihre Züge. Das Elend all der brüchigen Ehen, die sie aus eigener Anschauung kennengelernt oder aus Gesprächen erfahren hatte, stieg vor ihr auf, mit all den unaussprechlich beschämenden Folgen, die sich in jedem Fall ergaben, aus stumpfer Duldung, dauerndem Streit oder endlicher Scheidung; sie war ihm überall begegnet, kopfschüttelnd, verurteilend, mit erhobenem Kinn. Daß nun ihre eigene, liebevoll und sorgfältig erzogene Tochter nicht dem selbstverständlichen Glück in die Arme gelaufen sein sollte, sondern diesem Elend, war eine überraschende und furchtbare Enttäuschung, sie fand es kaum glaublich, und es machte sie wütend.
Inzwischen wurde der Tee vor ihnen kalt, und im Zimmer nebenan erwachte der Kleine. Er schlug die Augen auf, lauschte ein wenig, kroch unter der Decke hervor und entdeckte den Bären. «Es Bärli!» sagte er lächelnd, ergriff ihn und kletterte damit aus dem Bett. Freudestrahlend, den unverhofften Fund weit vor sich hingestreckt, um ihn Mama so rasch wie möglich zu zeigen, trippelte er im Hemd ins Wohnzimmer hinüber. Dort aber stutzte er befremdet und senkte das Ärmchen.
Gertrud fuhr auf und lief ihm so rasch entgegen, als ob er ihr wieder entgleiten könnte; sie hob ihn hoch an ihre Brust, legte ihr Gesicht an seine Wange und trug ihn eilig zurück.
8
Paul Ammann rückte mit bitterm Unwillen in den Wiederholungskurs ein. Die Füsiliere des Zuges, dem er zugeteilt wurde, waren Arbeiter, kaufmännische Angestellte, Handwerker; er brachte keine Anteilnahme für sie auf, so wenig wie für die Masse des Volkes, der sie angehörten, er hatte die Fühlung mit dem Volksganzen verloren. Er unterhielt im zivilen Leben Beziehungen zu Malern und Literaten, die diese Fühlung ebenfalls verloren hatten, und verbrachte seine geselligen Stunden in der internationalen Luft der Kaffeehäuser. Trotzdem besaß er einen hohen Begriff von dem, was er in seiner Sprache Volk nannte, aber diesem Begrifflag keine Anschauung zugrunde und dieses Volk hatte nichts zu tun mit dem wirklichen Volke, das aus Fabrikarbeitern, Kaufleuten, Bäckern, Nationalräten, Tramführern, Bauern und vielen andern unkünstlerischen und geistlosen Menschen bestand. Er hatte die Kluft, die ihn von diesem wirklichen Volke trennte, nie als Übel oder gar als Schuld empfunden; jetzt, da man ihn zurückgeholt und dank den Gesetzen seines Landes unter eben dieses Volk gesteckt hatte, litt er darunter.
Er stand in den Tagen der Einzelausbildung fremd und unglücklich zwischen seinen Landsleuten auf einer gemähten Wiese, glitt von Zeit zu Zeit in die Grundstellung, drehte sich, wenn der Korporal Drehungen befahl, wiederholte Gewehrgriff um Gewehrgriff und fühlte sich furchtbar angeödet. Sein Gruppenführer war der Korporal Egli, ein untersetzter, etwas krummbeiniger Mensch mit einem merkwürdigen Altweibergesicht von rosiger Farbe, einer billigen Brille auf der langen Nase und zurückgekämmtem dünnem Haar. Beim Einrücken hatte er noch vernünftig, ja gutmütig mit seinen Leuten gesprochen; jetzt sprühte er vor Energie, eine fremde Willenskraft schien von ihm Besitz genommen und ihn völlig verwandelt zu haben.
Diese fremde Kraft beherrschte ringsum im fahlen Morgenlicht auf den gemähten grünen Wiesen und braunen Stoppelfeldern die übenden Gruppen und Züge, sie war im Bataillon wirksam geworden, ja sie hatte das gesamte Regiment, das gemütlich eingerückt war, in ein straff bewegtes, lebendiges Ganzes verwandelt. Wie man die zerstreuten Bestandteile einer Maschine sammelt, ölt und zusammensetzt, so waren die Eingerückten gesammelt, ausgerüstet und zur Truppe zusammengefügt worden, und wie man mit einer bestimmten Kraft die Maschine dann antreibt, so war mit dem Einsatz jener Willenskraft auch die Truppe in Betrieb gesetzt worden, in den militärischen Dienstbetrieb. Der Regimentskommandant hatte gleichsam den Strom eingeschaltet, der Strom war in die Bataillonskommandanten und von ihnen in die Hauptleute gefahren, und die Hauptleute hatten ihn an ihre Zugführer und Unteroffiziere weitergeleitet, die ihn nun auf die Mannschaft einwirken ließen. Es gab von jedem Grade gute und weniger gute Empfänger, aber die Kraft dieses Stromes genügte, um jeden abweichenden Eigenwillen auszuschalten und das Ganze in jenen flotten Gang zu bringen, der schließlich die Kriegstüchtigkeit der Truppe zu erneuern und zu steigern hatte. Wer sich von diesem Strome widerstandslos ergreifen ließ und bereitwillig ausführte, was ihm auferlegt war, dem ging alles leicht von der Hand; wer ihm aber widerstrebte und sich vom Gang des Ganzen nur mitschleppen ließ, statt selber zu laufen, der wurde zum Knirschen gebracht wie ein falsch eingesetztes Maschinenteilchen.
«Kopf hoch! Brust heraus!» befahl Korporal Egli. «Noch einmal, Ammann … ach was, das ist doch keine Achtungstellung … he, so reißen Sie sich doch zusammen! Nein, das ist noch gar nichts … weiter üben!»
Nachdem der Hauptmann