Schweizerspiegel. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия: Meinrad Inglin: Gesammelte Werke in zehn Banden. Neuausgabe
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919954
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Welt hinaus!» Aber sogleich fielen ihr die Kinder ein, die daheim auf der Terrasse schliefen, und mit den Kindern tauchte der ganze Lebenskreis auf, in den sie verflochten war. Sie würde ihm niemals entrinnen können, die Menschen schleppten ja alle ihren Alltag, ihre Beziehungen, ihren Besitz und ihre Stellung wie Blei an den Füßen mit. Es gab nur eine innere Freiheit, die äußere mußte eine Sehnsucht bleiben und war oft nicht einmal ein ernstlicher Wunsch. Sie wünschte wohl, mit beiden Kindern, eins im rechten, eins im linken Arm, ungebunden fortzuwandern und eine neue Luft zu atmen, aber sie würde doch nicht alles aufgeben können. Den gesicherten Verhältnissen, den Gewohnheiten ihres gepflegten Lebens, dieser Stadt, die sie allen Städten der Welt vorzog, und schließlich den Eltern würde sie wohl niemals davonlaufen wollen.

      Ohne anzuhalten schaute sie erfreut den Möwen zu, von denen einige bettelnd über der Quaimauer flatterten oder sich leichtfüßig auf der Mauer niederließen, die Flügel ordneten und aufmerksam herumblickten, während andere hoch über dem Wasser in der klaren Luft mit mühelosem Schwunge kreuzten.

      «Wenn ich kein Mensch sein müßte, möchte ich eine Möwe sein, nur um so herrlich fliegen zu können», dachte sie. «Der Mensch ist und bleibt ein schwerfälliges Wesen, auch wenn er das Leben noch so meistert. Was ist doch Mama für eine überlegene, selbständige Person, aber wie ist sie an alles gebunden und wie quält sie sich jetzt wieder!»

      Während sie vom Seeufer abbog, begann sie über Mamas Plan nachzudenken und überlegte, ob es nicht auf eine andere Art ginge. Mama wollte vor der Übersiedlung in die Mietswohnung noch einmal die Ammannsche Verwandtschaft in den alten Räumen versammeln. Die Einladung war bedacht und ausführlich besprochen worden, aber dabei hatte sich gezeigt, daß diese Verwandtschaft kaum mehr unter ein Dach zu bringen war. Die persönlichen Anlagen und Eigenheiten ihrer Mitglieder hatten sich im Lauf der Jahre unmerklich verstärkt. Da war die Verwandtschaft im Rusgrund mit ihrem Oberhaupt Onkel Robert, einem noch halb bäuerischen Landwirt, der auch in einem städtischen Salon den Rock auszog, wenn es ihm paßte, und der mit einem vornehmen, auf Haltung so erpichten Offizier wie Hartmann nur schwer in Einklang zu bringen war. Ferner hatte der kultivierte, stille Professor Junod mit Onkel Robert gar nichts gemein, so wenig übrigens wie mit Frau Barbaras Bruder, dem Oberstdivisionär Boßhart, der sich bei geselligen Anlässen höchstens langweilte, wenn er nicht gifteln oder trinken konnte. Eine größere Anzahl guter Flaschen würde zwar die männlichen Gegensätze gegen Mitternacht vielleicht aufzutauen vermögen, aber dann blieben immer noch die Frauen, und außerdem war der Hausfrau das Mittel unsympathisch. Zudem würde Paul sich wahrscheinlich drücken, vielleicht auch Fred, der in Gesellschaften mit merkwürdig feinem Gefühl das Unechte und Gezwungene spürte. Am ehesten konnte noch Severin bestehen; mit seiner Frau hingegen ließ sich wenig anfangen. Papa und Mama selber nahmen eine gewisse humane Mitte ein und wären wohl imstande gewesen, ohne Verstellung nach allen Seiten hin anzuknüpfen, aber offenbar hatten sich nun zu ihrem Ärger die Widerstände stärker erwiesen als ihr guter Wille.

      Gertrud war in dieser Beziehung unbedenklicher als die Mutter, sie hätte ohne weiteres die ganze Verwandtschaft eingeladen und mit einem gewissen Trotz den Sieg des gesellig Anständigen über alles persönlich Trennende erwartet; als sie aber im Wohnzimmer neben Mama saß und von neuen Schwierigkeiten erfuhr, verzichtete sie achselzuckend auf eigene Ratschläge.

      «Es ist immer dieselbe Geschichte, geh mir weg!» rief Mama mißgelaunt. «Man bringt heute vor lauter Empfindlichkeiten und Rücksichten kein halbes Dutzend Leute mehr zusammen. Übrigens …» Sie fuhr, den Kopf schüttelnd, etwas leiser fort: «… die andern sind nicht allein schuld … mein Bruder wäre gekommen, dafür hätt’ ich gesorgt … aber Papa hat etwas gegen ihn, etwas Militärisches, denk’ ich, und jetzt … ach, ich mag gar nicht mehr davon reden. Die Männer sind in dieser Beziehung um kein Haar besser als wir.»

      «Ach herrjeh, Mama!» rief Gertrud heiter zustimmend.

      «Jetzt, nicht wahr», fuhr Frau Barbara lebhaft fort, «trommelt halt Paul einfach das Quartett oder Quintett zusammen, und weil es das letztemal ist, daß ihr hier spielen könnt, verbinden wir es mit einem Nachtessen, und dazu bringt jedes seine andere Hälfte mit …»

      «So ist die Musik doch auch einmal für etwas gut!» rief Gertrud mit betonter Befriedigung und im kindlichen Tonfall, in den sie der Mutter gegenüber zum Spaß noch manchmal verfiel.

      Frau Barbara, die ihrer Tochter schon mehr als einmal geraten hatte, wieder zu reiten und Tennis zu spielen wie früher, statt immer am Klavier zu sitzen und Bücher zu lesen, überhörte die Anspielung geflissentlich. «Vielleicht kann ich dann die Rusgrund-Verwandten am andern oder übernächsten Tag noch einladen», fuhr sie fort. «Schuldig wären wir’s ihnen, Fred fährt ja fast jeden freien Tag hinauf … aber ich weiß es noch nicht, es wird zuletzt wohl eine Hetzerei geben … vorläufig bleibt’s beim andern. Und dann bringt Paul auch seinen Freund zum Nachtessen mit, den Herrn Pfister …»

      «So? Ja, das scheint ein netter Kerl zu sein, nicht? Ich habe seine Gedichte gelesen und möchte ihn ganz gern näher kennenlernen …»

      «Was macht die Madame? Ist ihr das neue Mädchen noch nicht davongelaufen?» ‹Madame› nannte Frau Barbara ironischerweise die alte Frau Hartmann, Gertruds Schwiegermutter, die mit schwer erträglichen Eigenheiten im Hartmannschen Hause den zweiten Stock bewohnte.

      «Ach, was macht sie! Kürzlich hat sie einen Nachmittag lang gejammert, weil die Putzfrau statt am Samstag erst am Montag kommen konnte … und dabei gab es ja natürlich in der ganzen Wohnung kein Stäubchen, das sie nicht schon selber entdeckt und durch das Zimmermädchen hatte wegputzen lassen. Ich geh’ lieber gar nicht mehr hinauf, wenn ich nicht muß.»

      Sie plauderten noch eine Weile um den Punkt herum, der Gertrud hergeführt hatte. Seit jenem Auftritt im Hartmannschen Hause, wo die Mutter am unrichtigen Ort auf ein Bett gestoßen war, hatten sie über das eheliche Mißverhältnis nicht mehr ernstlich gesprochen. Frau Barbara hatte sich mit Andeutungen begnügen müssen und daraus entnommen, daß zwischen Gertrud und ihrem Mann zwar kein offener Krieg, aber auch kein Frieden herrsche, sondern eine Art von Waffenstillstand. Dies war nach ihrer Meinung «gar nichts» und konnte höchstens zu gegenseitiger Gleichgültigkeit führen, was noch weniger war, während doch nur eine endgültige Versöhnung in Frage kam. Diese Versöhnung wünschte sie leidenschaftlich herbei, sie glaubte fest an ihre Möglichkeit und war entschlossen, die Vermittlung zu übernehmen, wenn die beiden es nicht selber fertig brachten. Der gesellige Abend nun konnte ihr eine Gelegenheit dazu bieten, jedenfalls würde sie die Entzweiten wieder einmal nebeneinander vor sich haben.

      Gertrud war sich über diese Absicht Mamas völlig klar, und sie merkte auch, daß Mama aus eigenem Antrieb jetzt nichts mehr davon antönen würde, weil sie es ja überhaupt nicht in Frage gestellt zu haben wünschte. So mußte sie denn selber den heiklen Punkt noch einmal berühren, doch tat sie es erst beim Aufbruch und auch dann nur vorsichtig aus dem Hinterhalt: «Ich komme dann etwas früher, Mama, dann kann ich dir noch ein wenig helfen, gelt!»

      «Was, früher! Ich habe Hilfe genug. Ihr kommt beide miteinander auf sieben Uhr!»

      «Mama … höre, ich weiß wirklich nicht, was mein Mann dabei …»

      «Ich will nichts mehr davon hören, fertig jetzt, adieu!» Frau Barbara schob ihre Tochter kurzerhand auf die Treppe, verhielt sich mit beiden Händen die Ohren und kehrte in die Stube zurück.

      Gertrud blieb verdrossen auf der Treppe stehen, dann ging sie zögernd hinab, durchwandelte den Garten, in dem sie jedes Winkelchen kannte und liebte, gab sich dem vertrauten Anblick des Hauses hin, in dem sie aufgewachsen war, und spürte, daß sie noch immer mit ganzer Seele daran hing. Es war ein Stück ihres «Reiches», ihres ganz persönlichen innern Reiches, zu dem ihr Mann keinen Zutritt fand; bald, wenn das Haus in Schutt und Staub zusammenbrach, würde sie trauern wie um den Verlust eines geliebten Wesens. Was hatte ihr Mann hier zu tun, da es galt, im Kreise der Angehörigen davon Abschied zu nehmen!

      Zu Hause verbrachte Gertrud den Rest des Nachmittags mit den Kindern im Freien, beförderte nach Sonnenuntergang die Kleine ins Bett und wechselte im Wohnzimmer dem Knaben die weiße Wolljacke. «Aber Schatz, was bisch du für es Drecksöili, lueg au da!» sagte sie liebevoll scheltend