Sie schüttelte unwillig den Kopf. «Ich würde am liebsten mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben», rief sie und ging mit dem Rock so bestimmten Schrittes hinaus, als ob sie nicht mehr wiederzukehren gedächte.
Ammann blieb mit einem nachdenklichen Lächeln sitzen. Sie schien sich mit dem Gedanken an die Mietswohnung ja nun abzufinden, das war die Hauptsache. Zum Verkauf des Hauses hatte sie niemals weder ja noch nein gesagt, und er hatte es auch nicht verlangt. Er wußte, daß sie ähnlich dachte wie er, sie war immer eine sehr vernünftige Frau gewesen, doch er begriff, daß ihr die Trennung von diesem Hause viel schwerer fallen mußte als ihm, und daß sie sich damit so wenig offen einverstanden erklären konnte wie etwa mit dem Tode des Vaters.
Inzwischen bürstete Frau Barbara den Rock, brachte ihn aber nicht zurück, sondern setzte sich damit an eines der Fenster, das noch einen geschlossenen Blick ins Innere des Gartens gewährte, und suchte mit dem Umstand fertig zu werden, daß die seit Jahren schwankende Lage sich jetzt entschied. Sie hatte mit ihrem Sinn für klare Verhältnisse irgendeine Entscheidung schließlich als das Wünschenswerteste bezeichnet. «Wenn man nur endlich wüßte, woran man ist!» Das war nach Unterredungen oft genug ihr letzter Schluß gewesen. Jetzt aber war sie dermaßen betroffen, als ob sie im Gegenteil heimlich gewünscht hätte, daß die Lage sich solange wie möglich nicht entscheiden möchte. Der Verkauf brachte nun zwar einen Haufen Geld ein, das sie sehr zu schätzen wußte; sie hatte ihr Leben lang im Wohlstand gelebt und gewisse verächtliche Redensarten über den Wert des Geldes immer mit einem Achselzucken abgetan. Aber die Schönheit dieses Familiensitzes, die unaufdringlich gewachsen und gereift war, die Erinnerungen, die sich für sie wie für jedes ihrer Kinder daran knüpften, das Gefühl der Häuslichkeit, das die zerstreute Familie hier doch immer wieder umschloß, dieses geheimnisvolle alles umfassende «Daheim», in dem sie wurzelte, konnte dies mit Geld erkauft werden? Sie hatte gegen die Entwicklung der Stadt nichts einzuwenden, so wenig wie gegen den Fortschritt überhaupt, den gesteigerten Verkehr, das zwanzigste Jahrhundert, die Macht der Zeit; sie fand es töricht, sich dagegen zu sperren, und sie galt in ihren Kreisen denn auch als fortschrittliche Frau. Sie hatte ja diese ganze Entwicklung miterlebt, sie hatte an der Seite ihres Mannes gekämpft und gelitten. Aber warum kam man nicht schließlich an ein Ziel? Und warum konnte man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, wenn man genug davon hatte? Warum drängten sich diese häßlichen Häuser ausgerechnet um ihr Heim zusammen, warum mußte diese Zeit eine ganze Familie vertreiben, über ein schönes altes Gut rücksichtslos hinwegstampfen und ein nüchternes Allerweltshaus an seine Stelle setzen?
Frau Barbara wurde jetzt, wie sie noch immer allein im schon fast dunklen Zimmer saß und nicht daran dachte, Licht zu machen, von ihrer berühmten Vernunft und Einsicht wohl ein wenig verlassen. Sie blickte mit einer ungewohnten, traurig bittern Miene verloren durch das Fenster in den Garten hinab, der in einem seltsamen Zwielicht lag. Von den beiden Straßen her drang das Licht der grellen Laternen dunkelgoldig durch das gilbende Buchenlaub und lag in gedämpften Flecken auf dem Rasen. Im Hintergrund schufen Gebüsche ein dichtes Dunkel, doch war davor in der Dämmerung noch der Brunnen zu erkennen, und der dünne Silberstrahl schimmerte ein wenig, den der bronzene Faunskopf, unberührt vom nahen Getöse, arglos mit geblähten Backen ins Muschelbecken spie.
3
Professor Gaston Junod trat ins Wohnzimmer, Ammanns Schwager, ein sorgfältig gekleideter, stiller Mann von dreiundfünfzig Jahren mit gepflegtem Spitzbart, zurückgekämmtem weißgrauem Haar und sackigen Fältchen unter den halb geschlossenen Augen. Leise und freundlich begrüßte er die Hausfrau, dann blickte er sich flüchtig um, als ob er etwas suchte, und lobte schließlich die Rosen, die auf dem Tisch über den Rand einer Kristallvase hingen.
Er stammte aus Lausanne, seine Muttersprache war französisch, aber er drückte sich geläufig schweizerdeutsch aus, mit etwas gebrochenem Akzent und leichten Abweichungen ins Schriftdeutsche. Vor sechsundzwanzig Jahren, als Privatdozent für romanische Philologie an der Universität in Zürich, hatte er Ammanns älteste Schwester geheiratet und seither die Stadt nur noch vorübergehend verlassen. Seine Vorlesungen galten im gebildeten Publikum, das einem geistreichen Vertreter der neuern französischen Literatur den Vorzug gab, für langweilig, doch die jungen Romanisten schätzten ihn aus irgendeinem Grunde. In der Ammannschen Familie verkehrte er nur gelegentlich, aber als leidlicher Cellist hatte er bis zur Abreise Pauls regelmäßig an einem Streichquartett in diesem Hause teilgenommen und seither auch mit Severin und Gertrud zusammen Trio gespielt.
«Schön, diese Rosen!» sagte er beiläufig und schon bereit, den Grund seines Besuches zu erklären.
«Ja, nicht wahr, prachtvoll!» antwortete Frau Barbara erfreut und drehte sorgfältig die Vase, so daß er sich noch zur Frage verpflichtet fühlte, ob es eigene seien. «Jaja freilich», bestätigte sie lebhaft, «das sind noch eigene. Wir werden nicht mehr lange eigene Rosen haben.»
«So? Ja … soll es denn nun wirklich zum Verkauf kommen?»
«Es scheint!»
«Ach, das ist schade! Ich habe immer noch gehofft, Alfred werde … ja, so ein Haus, auf Abbruch, das tut mir nun wirklich leid …»
Frau Barbara zuckte die Achsel, bat ihn, Platz zu nehmen, und ließ rasch eine Flickarbeit von einem Nebentischchen verschwinden, während er fortfuhr, sein Bedauern auszudrücken; doch plötzlich trat sie näher an ihn heran und sagte vertraulich gedämpft, aber mit tiefer Überzeugung: «Ja, nicht wahr, es ist jammerschade! Jammerschade!»
Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte sich wiederum flüchtig und scheinbar verlegen um, doch eh er ein Wort geäußert hatte, war Frau Barbara schon an der Tür und rief ihren Mann herbei.
«Ah, Gaston, willkommen, willkommen!» rief Ammann beim Eintritt laut und freudig. «So, sieht man dich auch wieder einmal? Das ist schön!»
«Du bleibst doch zum Nachtessen!?» sagte Frau Barbara. «Wir sind allein …»
Professor Junod lehnte mit erhobenen Händen ängstlich ab, dann kam er sogleich auf den Anlaß seines Besuches zu sprechen. «Ich wollte dir nur mitteilen», begann er, zu seinem Schwager gewandt, «daß Paul sich nicht angemeldet hat. Wir hatten gestern Aufsichtsrat und …»
«So, jetzt nehmt erst einmal Platz!» unterbrach ihn Frau Barbara. «Trinkst du ein Glas Wein? Oder ein Schnäpschen?»
Professor Junod lehnte wiederum leise, aber entschieden ab und fuhr mit seinem Berichte sogleich fort. Er gehörte dem Aufsichtsrat des Graberschen Instituts an, einer sogenannten Schnellbleiche für künftige Maturanden, wo eine Lehrstelle für Deutsch ausgeschrieben war.
«Nicht angemeldet?» fragte Ammann finster.
«Ja, es sind eine ganze Anzahl Bewerbungen eingelaufen, ich habe sie durchgesehen, aber von Paul war nichts da. Nun, nicht wahr, was wollte ich machen … der Termin ist abgelaufen, die Besetzung ist dringend … ich habe nicht allein zu entscheiden, und ich konnte doch nicht …» Er lächelte fast schüchtern und schüttelte den Kopf.
«Selbstverständlich!» sagte Ammann entschieden. «So … hm … was fällt diesem Herrn eigentlich ein?» Er blickte zornig fragend auf seine Frau, die aber in diesem Augenblick aus dem Wohnzimmer verschwand.
«Es wäre für Paul ja ein ganz netter Anfang gewesen», fuhr Professor Junod fort, «aber ich weiß nicht, vielleicht hat er etwas anderes im Sinn … diese jungen Leute, mon dieu …»
«Wann ist der Termin abgelaufen?»
«Vorgestern … es stehen jetzt drei Bewerber in der engern Wahl … in der nächsten Sitzung müssen wir beschließen.»
«Und wenn Paul sich nun morgen abend noch anmelden würde … aber es ist ja nun zu spät, natürlich …»
«Oh, man könnte sehen … ich weiß nicht … ich müßte mit den Herren reden …»
«Paul kommt spätestens morgen abend heim», erklärte nun Ammann bestimmt, «er muß übermorgen in den Wiederholungskurs einrücken. Ich werde dafür sorgen, daß er sich