Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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im Leben würde er es erraten. Vor allem, was ihr zweites Gespräch betrifft. Aufschlussreich wäre es allerdings schon gewesen, wenn er es gekonnt hätte. Tanner holt tief Atem und seufzt. Gedankenverloren greift er zu einem der Kopfhörer. Eine widerlich süßliche Frauenstimme erzählt in einem völlig falschen Märchenton von Schneewittchen. Und wie es scheint, in ziemlich freier Form. Einer der Zwerge fragt gerade atemlos, welchen von den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen sie denn am meisten lieb habe. Er fragt es im Brustton der Überzeugung, dass ganz bestimmt nur er der Auserwählte sein kann. Darauf lässt die Erzähltante das Schneewittchen ziemlich zickig auflachen. Wahrscheinlich war ein liebliches Prinzessinnenlachen gemeint …

      Aber ich habe euch doch alle gleich gern, ihr dummen Zwerge, ihr seid mir alle gleich lieb und wichtig.

      Was für eine verlogene Antwort, denkt Tanner verstimmt. In diesem Moment tippt ihm Martha auf die Schulter. Er dreht sich zu ihr um. Martha lacht. Die Sonne im Märchen könnte dem naiven Müllersohn nicht freundlicher strahlen.

      Du siehst, es geht mir besser. Ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht kann manchmal Wunder wirken.

      Martha sieht tatsächlich nicht nur erfrischt aus, sondern sie hat offensichtlich auch ihre gute Laune wiedergefunden. Dass das alles aufs Konto von kaltem Wasser gehen soll, bezweifelt Tanner allerdings. Mit wem sie nur telefoniert hat? Hat sie angerufen oder war es einfach ein Zufall, dass ihr Telefon klingelte, während sie auf der Toilette war? Tanner hat große Lust danach zu fragen, verkneift es sich aber. Was geht es ihn an? Er hat sich über dreißig Jahre lang nicht bei ihr gemeldet, ja nicht einmal an sie gedacht, und jetzt ist er schon verstimmt, wenn ein paar fremde Männer ihr nachblicken und sie ein privates Telefongespräch auf der Damentoilette führt.

      Warum habe ich bloß dieses beharrliche Gefühl, dass dieses Gespräch mich irgendwie betrifft, fragt er sich im Stillen. Er beschließt, das Gefühl einfach zu ignorieren. Es fällt ihm gar nicht so schwer, denn Martha hängt sich in diesem Moment mit einem wirklich verführerischen Lächeln bei ihm ein.

      Komm, Tanner, lass uns fahren. Ich hoffe, du hast ein schnelles Auto. Ich will mal sehen, wie du wohnst.

      Sie holen den kleinen BMW, den Tanner wieder gemietet hat, aus dem Parkhaus. Tanner bezahlt an einem der hypermodernen Parkautomaten, ohne mit der Wimper zu zucken, den horrenden Betrag … Ich will mal sehen, wie du wohnst …

      Dieser von Martha leicht hingeworfene Satz dröhnt in Tanners Schädel und will nicht leiser werden. Er hat das Gefühl, als habe ihn irgendetwas Mächtiges geschubst. Sagen wir mal: eine Abrissbirne. Und zwar in eine Richtung gezwungen, die Tanner im Moment etwas unheimlich vorkommt. Wollte er das nicht auch? Wie? Die Nacht mit ihr verbringen! Ja? Nein? Ja, schon, aber …

      Leise hört Tanner die alten Richter seines inneren Hohen Tribunals vor sich hin kichern. Sie hatten sich lange nicht mehr gemeldet. Vielmehr: Es hatte lange nichts zu melden gegeben.

      Martha plaudert auf ihrem kurzen Weg durch die Innenstadt ohne Punkt und Komma. Wie weggeblasen ihre Verstimmung, ihr Traueranfall. Sie erzählt unbeschwert von ihren Kolleginnen und Kollegen bei der Zeitung, von ihrem bärbeißigen Chef, den Tanner ja kurz gesehen – und vor allem gehört hatte. Sie berichtet von ihrer neuen Arbeit. Sie bildet wohl eine Art ziemlich selbstständige Abteilung für besondere Aufgaben. Direkt der obersten Leitung unterstellt und niemandem sonst Rechenschaft schuldig.

      Tanner hat Mühe, ihren frei assoziierenden Wörterkaskaden zu folgen. Mit ihrer kurzen Bemerkung hat sie ihn ganz schön durcheinander gebracht. Was ist nur in Martha gefahren? Woher dieser Umschwung? Auf einmal, quasi aus heiterem Himmel, will sie seine Wohnung sehen. Sie will also partout nicht in ihre Stadt zurückfahren, sie will Tanners Wohnung am kleinen See sehen.

      Hätte ihn jemand gefragt, ob er Martha heute bitten würde, ihn in seine Wohnung zu begleiten, er hätte ihn entweder offiziell für verrückt oder zu einem psychologischen Vollidioten erklärt. Zu einem kompletten Ignoranten der weiblichen Seele auf jeden Fall.

      NEUN

      Das Haus am See, in dem Tanner sich eine Wohnung gemietet hat, ist voll mit antiken Möbeln und mit ebenso vielen Geschichten und Histörchen. Erbaut im 17. Jahrhundert – übrigens vom selben Architekten wie das nahe gelegene Schloss – war es zunächst Gasthof und Relaisstation für die Postkutschen, die die reichen Herrschaften von Paris in die Schweiz oder nach Italien und zurück beförderten. Die Legende des Hauses behauptet, dass auch die Gattin von Napoleon und andere hochwohlgeborene Persönlichkeiten aus Politik und Adel in diesem Hause übernachtet haben sollen.

      Später wurde das Haus zu einem vornehmen Institut für die – wie man sie damals nannte – höheren Töchter und deren Erziehung zu perfekten Gattinnen umgewandelt. Eine Vorstellung, die Tanner ganz besonders amüsiert. Kurzzeitig war das Haus ein Restaurant, bis es dann als vornehmes Privat- und Patrizierhaus seine endgültige Verwendung fand.

      Der jetzige Besitzer, ein schrulliger, pensionierter Apotheker, hat es von seiner noch schrulligeren Mutter geerbt, die fast dreißig Jahre lang das große, mit Glyzinien bewachsene Haus mutterseelenallein bewohnte, nachdem ihr Mann, ein Kunstlehrer aus Genf, gestorben war. Sie pflegte allerdings während der letzten Jahre immer zu behaupten, dass ihr Mann erst vor sieben Jahren gestorben sei. Das unterste Stockwerk besteht zur Hauptsache aus einem großen, dunklen Empfangs- und Wohnraum, mit einem Kamin, in dem ohne weiteres ein kleines Kammerorchester Platz nehmen könnte. In der Beletage im ersten Stock ist es heller und wohnlicher. Diese beiden Stockwerke sind bis auf weiteres unbewohnt, da der Besitzer sich nie richtig entscheiden konnte umzuziehen. Schön renoviert hat er das Haus für eine Riesenstange Geld, aber bewohnen will er es offenbar nicht. Tanner bewohnt den ganzen obersten Stock. Da, wo früher die Bediensteten hausten. Der Blick aus den Fenstern ist schlicht atemberaubend. Der Park. Der See. Das gegenüberliegende Ufer mit seiner sanft geschwungenen Hügelkette. Es ist einmalig.

      In der ersten Zeit hatte Tanner allerdings keinen Blick für diese Schönheit. Der Schmerz um das Schicksal seiner Geliebten machte ihn blind für solche Äußerlichkeiten. Er hatte sich für die Wohnung entschieden, weil er sofort den Geruch dieses Hauses mochte. Ein Schritt ins Haus hinein, ein Atemzug … und er wusste, dass er hier wohnen wollte. Tanner fehlen jeweils die Worte, wenn er jemandem von diesem Geruch erzählen will. Auch jetzt, da er mit Martha auf dem Weg zu seinem neuen Zuhause ist.

      Martha, du wirst es ja gleich selber riechen. Das Haus ist halt aus richtigem Stein gebaut, dazu viel altes Holz und komplett bewachsen mit diesen wunderschönen Glyzinien.

      Martha nickt nur leicht mit dem Kopf, nun ihrerseits verwundert über den ununterbrochenen Erzählfluss von Tanner. Sie interessiert sich zwar auch für alte Häuser, aber Tanner spricht die ganze Zeit über dieses Haus, als ob er über eine Geliebte spräche.

      Andererseits weiß sie natürlich, dass sie ihn mit dem Entschluss, mit ihm zu fahren, nervös gemacht hat. Eigentlich verstand sie selber im Nachhinein ihre spontane Entscheidung kaum noch, aber nachdem ihr Chef so lange am Telefon genervt und sie endlich einmal den Mut gefunden hatte, ihm ungeschminkt die Meinung zu sagen, vor allem über seine plumpen Annäherungsversuche, war es ihr, als ob ein unerträgliches Gewicht von ihr abgefallen wäre. Seit Monaten versucht Stettler, sie in sein Bett zu kriegen. Dabei mochte sie ihn anfänglich sehr gerne. Er ist ungeheuer intelligent, wortgewandt und witzig und von einer geradezu barocken Lebens- und Sinnenfreude. Aber seit er sich offenkundig in den Kopf gesetzt hat, sie in die lange Liste seiner Eroberungen einzureihen, findet sie ihn von Tag zu Tag widerlicher. Und das Ganze dauert nun schon ewige Monate. Zugegeben, am Anfang fühlte sie sich von seinen unverblümten Avancen geschmeichelt, immerhin ist er der große Boss der Zeitung, aber diese Zeit ist längst vorbei. Mittlerweile fühlt sie sich sogar bei ihrer Arbeit behindert und überlegt sich ernsthaft, ob sie nicht eine neue Stelle suchen soll.

      Sie betrachtet Tanner von der Seite, der ununterbrochen von diesem Wunderhaus schwärmt, und überlegt, ob sie vielleicht mit ihm darüber reden sollte. Besser nicht. Sonst bildet er sich am Ende noch mehr ein, als er es eh schon tut. Unter dem Vorwand, seinen Schwärmereien aufmerksam zuzuhören, kann sie ihn ausgiebig betrachten. Früher in der Schule hatte sie das kaum gewagt, obwohl sie doch die gesamte gemeinsame Schulzeit, und