Das Gesetz des Wassers. Urs Schaub. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Urs Schaub
Издательство: Bookwire
Серия: Simon Tanner ermittelt
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783857919459
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Tatsächlich hat der blaue Himmel einen ungewohnten Gelbstich. Wäre das Gelb noch ein bisschen intensiver, man hätte Weltuntergangsvisionen. Der Himmel verspricht eine unangenehme Hitze für den Tag und sieht irgendwie kränklich aus. Weit und breit keine Wolken.

      Tanner gewöhnt sich nach und nach an die Hitze. In Marokko hatte er sie richtig schätzen gelernt. Ein Gräuel blieben ihm allerdings die feucht-kalten Tage im Winter, denn in seinem Haus gab es keine Heizung. Dafür gab es die unendlichen Variationen der tajines von Khadjia. Und abends legte sie warme Steine in sein Bett, die sie in heißem Wasser erwärmt hatte …

      Aber das war lange her und die Erinnerungen an seine Jahre in Marokko erschienen ihm plötzlich nicht wie Erinnerungen an eine Wirklichkeit, sondern an eine geträumte Zeit. Der Rauswurf aus dem Land wie ein unsanftes Wecken …

      So hektisch und betriebsam es in den Straßen der Innenstadt zu- und hergeht, so leer und ausgestorben ist die Anlage um den Theaterbrunnen. Die Touristen und die Kiffer schlafen noch. Auch für die Liebespaare ist es noch zu früh. Sie träumen noch von ihrer letzten Liebesnacht. Zumal der Bereich um den Brunnen immer noch abgesperrt ist.

      Tanner beschließt, sich nicht direkt dem Busch zu nähern, sondern zuerst eine Weile das auch bei Tageslicht undurchdringlich scheinenden Gestrüpp und dessen Umgebung zu beobachten. Er lässt sich auf einer Bank unweit der Stelle nieder, setzt seine Sonnenbrille auf und wartet.

      Die Anlage mit dem großen Brunnenbassin, dessen verspielt heitere Maschinen und Figuren aus polizeilichen Gründen noch nicht in Bewegung sind, erscheint heute Morgen inmitten der Betriebsamkeit der Stadt wie eine Oase der Trägheit und Stille. Ab und zu kommen einzelne Passanten durch die Unterführung, durchqueren die Anlage, ohne den Brunnen oder den still dasitzenden Tanner zu beachten.

      Nichts deutet darauf hin, dass jemand in diesem Busch sitzt oder jemals saß. Außerdem ist es ein Rätsel, wie man in dieses undurchdringliche Gestrüpp hineinkommt. Oder wieder herauskommt. Immerhin handelt es sich um eine üppig wuchernde Pflanze mit Dornen. Aber die Stimme gestern Nacht war real. Da ist sich Tanner ganz sicher. Das hat er nicht geträumt, obwohl er oft genug an seiner Wahrnehmung zweifelt. Auch war er nicht betrunken. Der Tod von Michiko, der Anblick ihres hellen, bewegungslosen Leibes mitten im dunklen Wasser, die schnelle und flüchtige Arbeit der Polizei, der Besuch bei Kommissar … pardon, Hauptkommissar Schmid, das alles hat er schließlich auch nicht geträumt. Etwas fällt jetzt auf. Die Vögel …

      Vögel fliegen den Busch an, setzen sich auf die Zweige und – verschwinden nach kurzem Zögern dann. Tanner versucht sich zu konzentrieren. Kommen sie auch wieder heraus? Vielleicht auf der von ihm abgewandten Seite des Busches? Denn da, wo sie in den Zweigen verschwinden, kommen sie offensichtlich nicht wieder heraus. Na ja, denkt Tanner, vielleicht haben die Vögel im Busch eine Gipfelkonferenz. Wenn es so ist, dann ist es aber eine sehr stille Konferenz. Man hört nämlich keinen Laut. Meditieren Vögel? In der Gruppe?

      Tanner lacht still in sich hinein.

      In diesem Moment kommt durch die Unterführung eine gebückt gehende Frau. Sie ist klein und schmal, hält ihren Kopf gesenkt und schleppt einen prall gefüllten, einachsigen Einkaufswagen hinter sich her. Diese Art von Einkaufswagen hatte früher auch Tanners Großmutter benutzt. Jetzt steht sie einen Moment still und atmet tief durch. Ihre grauen Haare sind straff nach hinten gekämmt und in einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengehalten. Sie trägt trotz der Hitze mehrere dünne Mäntel übereinander und dicke graue Strümpfe. Jetzt setzt sie ihren Weg fort und verschwindet aus Tanners Blickfeld hinter dem Busch. Da sie nicht wieder auftaucht, denkt Tanner, sie müsse schon wieder eine Verschnaufpause machen. In diesem Moment rauscht es in den Zweigen, und ein Schwarm Vögel schwirrt aus dem Inneren des Dickichts. Wie auf Kommando schießen sie heraus in die Freiheit. Im nächsten Augenblick sind sie schon verschwunden. In alle Himmelsrichtungen. Sind sie vom Auftauchen der Frau erschreckt worden? Und wo bleibt sie eigentlich? Tanner beschließt nach einer Weile, näher zum Busch zu gehen. Ohne Hast und so unauffällig wie möglich nähert er sich.

      Plötzlich hört er Stimmen. Tanner bleibt stehen und lauscht. Zwei Stimmen sprechen ohne Punkt und Komma hastig aufeinander ein, gleichzeitig rascheln Papier und Laub. Tanner geht näher und erkennt jetzt die hohe Stimme, die gestern aus dem Busch heraus gesprochen hatte. Offensichtlich schimpft die Stimme mit der Frau, die sich energisch, aber mit gepresster Stimme zur Wehr setzt.

      Batterien bring mir Batterien das machst du extra du bist eine Verdammte/ja ja immer brauchst du Batterien ich habe dir vor zwei Tagen welche gebracht warum hast du sie vergessen das machst du extra um mich zu quälen/das bildest du dir ein du quälst mich mit deinen ewigen Vorwürfen/Gottes Strafe soll dich treffen, der Wurm in meinem Ohr hat es mir gesagt/sei still du undankbarer Mensch was würdest du denn ohne mich machen/ich brauche auch wieder neue Zeitungen die hast du mir auch nicht gebracht du weißt dass ich sie zum Schutz gegen die Geister brauche die alten sind schon ganz verschwitzt/ja ja du du du brauchst brauchst und ich soll springen wenn es dem Herrn gefällt/schweig Alte gehe heim und bringe mir Batterien und nicht wieder die falschen die dicken runden die brauche ich und jetzt schweig ich muss beten/ja ja ja

      Die Frau murmelt noch eine Weile Unverständliches. Als sie hinter dem Busch wieder sichtbar wird, ist ihr Einkaufswagen leer. Immer noch murmelnd und maulend geht sie zurück, in Richtung Fußgängerunterführung.

      Tanner zieht sich leise zurück. Er will sich dem Wesen im Busch nicht mit leeren Händen nähern. Im nächsten Warenhaus findet er, was er sucht.

      Diesmal geht er direkt auf den Busch zu. Von derselben Seite, wo die Alte stand. Da befindet sich anscheinend der Besuchs- und Lieferanteneingang. Tanner zitiert zu seiner Anmeldung die Frage, die er gestern Nacht aus dem Busch gehört hat.

      Was ist das Größre vor dem Herrn? Ein ausgespiener Apfelkern, ein Hund, ein Kind, ein Halm im Wind, die Reue einer Dirne?

      Es bleibt still im Busch. Tanner neigt sich etwas vor, kann aber durch das enge Geflecht der Zweige und Blätter nichts erkennen. Wenn ihn jetzt jemand beobachtet hätte, ihn sogar gehört hätte, er müsste denken, Tanner sei nicht bei Trost, er sei sicher einer dieser durchs Radio Gesuchten. Gebeten wird um schonendes Anhalten. Na ja, wenn schon.

      Vorsichtig beginnt er, mit beiden Händen in die Äste zu greifen. Bevor er sie richtig anfassen kann, schreit die Fistelstimme.

      Wage es nicht, den Hakeldamach zu betreten. Wage es nicht, ihn auch nur zu berühren, sündiges Stück Fleisch. Ich allein bewohne den Blutacker. Die flammenden Schwerter meiner Erzengel werden dich zerfleischen …

      Und wieder geht die hohe Stimme in mehrstimmigem Knurren und wilden Geräuschen von zähnefletschenden Hunden unter. Diesmal hört man aber deutlich, dass die Batterien des Tonbandes bald am Ende sind. Was gestern Nacht noch einigermaßen überzeugte, wird zum rührend lächerlichen Versuch, böse Geister vom Busch fern zu halten. Damit kann man aber höchstens kleine Kinder erschrecken. Oder vielleicht ganz kleine Hunde, die an den Busch pinkeln wollen. Tanner versucht das Tohuwabohu von Fistelstimme und mehrstimmigem Hundechor ab Konserve zu übertönen.

      Ich will nichts Böses. Ich will nur mit Ihnen reden. Und ich bringe neue Batterien, die dicken runden, die sind doch richtig, oder?

      Der Busch gibt abrupt Ruhe. Diesmal hört Tanner auch deutlich den Schalter des Tonbands. Nach einer Weile wiederholt er sein Anliegen.

      Und ich möchte wirklich wissen, was das Größre ist vor dem Herrn … Lange Stille. Tanner rührt sich nicht.

      Was glaubst du denn? Fragen muss man selber beantworten, sonst nützen die besten Antworten nichts. Aber überlege es dir gut!

      Tanner verschränkt die Arme. Ja, was ist denn das Größere vor dem Herrn. Die Reue einer Dirne? Reue für was? Das klingt sehr moralisch. Angesichts der toten Michiko sowieso.

      Am poetischsten wäre natürlich der Halm im Wind. Ein fast schon japanisches Bild. Die Schönheit an sich. Die Kunst. Ob die Kunst das Größte vor dem Herrn ist? Wohl kaum.

      Am philosophischsten ist das Bild vom Apfelkern. Auch wenn er ausgespien wurde. Oder gerade dann. Das scheinbar Unwerte. Der Apfelkern ist winzig,